Blut fliesst schwallweise. © Gabriela Neeb.

 

 

 

Alles weitere kennen Sie aus dem Kino. Martin Crimp/Euripides.

Schauspiel.                  

Mirja Biel. Volkstheater München

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.

 

 

Wie jede Kunst wird das Theatermachen bestimmt durch eine Reihe von Regeln, Konventionen und Moden. Wenn die Volksliedmelodie acht Takte hat, der Marsch drei Teile und der Sonatenhauptsatz zwei Themen, so verwendet das Gegenwartstheater Headsets, Ständermikrofone mit Schnur und Funkmikrofone. Immer wieder wird Video eingespielt. Wenn Blut fliesst, dann schwall- und kübelweise. Die Schauspieler singen allein oder chronisch. Wenn im Programmheft steht: "Musik" oder "Sound Design" (fürs Ohr vermischt sich häufig der Unterschied), stammen die Töne aus Live-Instrumenten oder aus der Konserve, und die Musiker spielen entweder sichtbar auf der Bühne oder unsichtbar in der Kulisse. Stets aber ist die Spielfläche leergefegt bis zur Brandmauer, und die Brandmauer ist schwarz angestrichen. Dazu wabert der Nebel; mal wird er mit zischendem Strahl von den Schauspielern selbst produziert, mal von unsichtbaren Bühnenarbeitern in die Luft gehaucht, so dass, wie in Caspar David Friedrichs Herbstlandschaften, Licht und Umrisse vom Dämmer verwischt werden.

 

Wenn auch die Regeln, Konventionen und Moden einen stengen Rahmen abgeben, der die Produktionen der Epoche prägt (im Impressionismus haben die Maler von Ligerz bis Warnemünde impressionistisch gemalt, in der Klassik die Komponisten von Meidling bis Kopenhagen klassisch komponiert und in der Moderne die Architekten von Shanghai bis San Francisco modern gebaut), so ragen trotz aller Regeln, Konventionen und Moden einzelne aus dem Haufen heraus. Es sind die, die nicht nur abschauen, übernehmen, einsetzen und anwenden, sondern mit dem Vorhandenen spielen.

 

Durch eine mal kühne, mal kluge, mal sensible Neukombination der Elemente formulieren sie Aussagen von aussergewöhnlicher Überzeugungskraft. Und durch den persönlichen, ja eigenwilligen Umgang mit dem Gegebenen gewinnen sie Tiefe. Daraus entsteht dann der spezifische "Ton": der Schubert-Ton, der Mozart-Ton, der Strawinsky-Ton. Eine ältere Kulturwissenschaft hat in diesem Zusammenhang das Wort "Stil" verwendet. Ich kenne kein besseres.

 

Immer jedoch, wenn sie vor Aussergewöhnlichem stehen, sind die Zeitgenossen überfordert. Beethovens Violinkonzert kam erst 14 Jahre nach dem Tod des Komponisten ins Repertoire. Den ersten Band von Prousts "Recherche" wies André Gide als Lektor des Gallimard-Verlags zurück. Und in München verweigern sich heute die Zuschauer der besten Antiken-Produktion, die in den beiden letzten Spielzeiten zwischen Paris und Wien zu sehen war. An der Avant-Derniere von "Alles weitere kennen Sie aus dem Kino" blieben fünf Sechstel der Plätze unbesetzt.

 

Worin lag nun aber die Überforderung? Darin, dass die Produktion einen Riecher verlangt. Unzählige Menschen spazieren oder joggen durch den Wald. Mein Onkel Jacques und meine Tante Silvana (beide 85) aber haben ein Sensorium für die guten Pilzplätze. Wenn sie aus dem Wald zurückkommen, bringen sie korbweise Herbsttrompeten, Pfifferlinge, Steinpilze, Maronenröhrlinge, Morcheln und Edelreizker nach Hause. In der Inszenierung von "Alles weitere kennen Sie aus dem Kino" von Mirja Biel spriessen die edlen Pilze zuhauf. Aber man muss die eiweiß-, vitamin- und mineralstoffreichen Bodengewächse zu schätzen verstehen. Nur dann bekommt man ein Gericht, das den Kennergaumen entzückt.

 

Im konkreten Fall liegt die Qualität der Aufführung in der Einheitlichkeit der Stillage. In den letzten Spielzeiten glichen die Antiken-Produktionen dem, was man im Gefecht Streuschuss nennt. Einiges traf ins Schwarze, anderes ging daneben. Die Aufführung am Münchner Volkstheater aber bringt ein Ganzes, das aus dem Raum, aus dem Nebel, aus den Klängen, aus den Kostümen, aus dem Spiel dergestalt herauswächst, dass man glauben möchte, es handle sich um eine ungewöhnlich gelungene Stückentwicklung. Dabei steht in Wirklichkeit dahinter ein Text: Das Schauspiel des englischen Dramatikers Martin Crimp nach Euripides' "Phönizierinnen".


Die Zutaten finden sich in jeder Küche. Das Rezept ist bekannt. Und doch kann das Beglückende nur entstehen, wenn eine Equipe am Herd steht, die das besondere Händchen hat. Dann wird Kochen zur Kunst. Das kann man noch einmal am Münchner Volkstheater erleben: Am Samstag, den 15. Februar. Bümpliz ab 11:19 h.

Headsets. 

Nebel. 

Leergefegte Bühne. 

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