Man merkt schon, dass etwas nicht stimmt. © Fabienne Rappeneau.

 

 

 

La Famille Ortiz. Jean-Philippe Daguerre.

Schauspiel.          

Jean-Philippe Daguerre, Théâtre Rive Gauche, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. November 2019.

 

 

Erzähltheater funktioniert. Das bestätigen die Produkte der Krimi-, Film- und Fernsehindustrie Tag für Tag. Die simple Frage: "Wie geht es weiter?", trägt die Zuschauer über eine lange Strecke. Und stärker noch wird das Interesse, wenn es gelingt, Identifizierung mit der Hauptperson herzustellen, so dass sich die Frage zur Anteilnahme steigert: "Wie geht es mit ihm/ihr weiter?"

 

Was funktioniert, braucht nicht subventioniert zu werden. Es wirft Gewinn ab und kann dem Unternehmertum überlassen bleiben. Darum kommt es bei den staatlich bezuschussten Bühnen nur am Rand vor. Sie kümmern sich vornehmlich um das, was nicht auf eigenen Beinen stehen kann, und sagen, es sei das Wertvollere.

 

In einem gewissen Sinn haben sie auch recht. Ein Theater, das Ansprüche stellt, schliesst alle aus, die sich nicht anstrengen wollen oder können. So ist Exklusivität hier eine Auszeichnung und nicht ein Schimpfwort. "Ich hasse das Gemeine und meide es", sagte Horaz schon vor zweitausend Jahren (odi profanum vulgus et arceo).

 

Je weniger mitkommen, desto überlegener können sich die vorkommen, die das Dargebotene noch verstehen. Sie brauchen nicht zu sagen: "Ich bin zu dumm dafür. Es ist mir zu hoch." Bei ihnen verhält es sich umgekehrt: Ihnen ist das Populäre "zu dumm". Mangels Komplexität erfordert es keine ausserordentliche Denkkraft, um aufgenommen und verstanden zu werden.

 

Das Populäre aber darf nicht spalten; sonst verliert es seine Mehrheitsfähigkeit. Es darf nicht vor Entscheidungen stellen. Es darf nicht allgemeine Wahrheiten in Zweifel ziehen. Es darf nicht zur Selbstbefragung führen; vielmehr muss es Selbstbestätigung auslösen. Also meidet das Populäre alles Umstrittene und bietet der grossen Zahl den grössten gemeinsamen Nenner an; mit dieser Strategie ermöglicht es das anstrengungslose Mitschwimmen.

 

Zum populären Erzähltheater bekennt sich nun auch das neueste Stück von Jean-Philippe Daguerre. Der grösste gemeinsame Nenner ist hier die Familie. Sie gibt bereits den Titel ab: "La Famille Ortiz". Sie wohnt in der Zeitlosigkeit der südfranzösischen Provinz. Der Vater, die Mutter und die drei bereits erwachsen Söhne sind sich selbst genug, wie es in "Peer Gynt" heisst. Sie leben abgeschieden von der Welt, der Gesellschaft und den politischen Fragen in einer stillgelegten Stierkampfarena. Am Ufer der Garonne haben sie noch eine einfache Hütte.

 

Doch Jean-Philippe Daguerre, Schauspieler, Regisseur und Stückeschreiber in einem, wie Curt Goetz, Nestroy, Molière und Shakespeare, hat auch in seinem zweiten Erfolgsschauspiel einen doppelten Boden eingebaut. Und der hebt es aus der Masse der Volksstücke heraus. Bereits in "Adieu Monsieur Haffmann" (die Produktion läuft jetzt im fünften Jahr) gibt ein doppelter Boden die Grundlage für die Handlung ab: Im ersten Stück lebt unter einer Falltür während der deutschen Besatzungszeit ein Jude im Keller eines Pariser Juwelierladens. In "La Famille Ortiz" öffnet der Autor die Falltür erst ganz zuletzt; und da gibt es für das Publikum kein Entrinnen mehr. Die grosse Entscheidungsfrage wird ihm auf den Heimweg mitgegeben; ihr bleibt es ausgeliefert.

 

Anfangs sieht alles ganz idyllisch aus. Gitarrenklänge. Ein junges, verliebtes Paar. Die Frau ist schwanger. Doch dann klopft die Vergangenheit an, in Form eines verleugneten Bruders. Die Frau stellt fest: "Du hast mich fünf Jahre lang belogen!" Damit ist die Kollusion von Liebe und Lüge gesetzt, die nun schichtweise in der Idylle der Familie Ortiz zutage tritt. Mit technisch hohem Geschick etabliert der Autor ein dekuvrierendes Pendelspiel zwischen verschiedenen Gegenwarts- und Vergangenheitsmomenten, bis am Schluss der lang verleugnete, einst erfolglose Selbstmordversuch der Mutter mit Hilfe des Vaters gelingt, der sich mit ihr zusammen in der Garonne ertränkt.

 

Am Ende bringt das Stück also die Tatbestände Selbsttötung und Beihilfe zur Euthanasie wegen unheilbarer Krankheit. Weil in diesem Moment der Vorhang fällt, wird die Handlung vom Publikum beklatscht. Die List des Stückeschreibers aber hätte wohl Brechts und Dürrenmatts Beifall bekommen. Nun ist der Vorhang zu und alle Fragen offen, ganz wie im Leben.

 

Volkstheater in Paris – mit Falltür. Der bleiche Mann auf dem Nebensitz hält vor der Vorstellung die Augen geschlossen. Er schnauft laut. Nun legt er den Kopf auf die Lehne der vorderen Reihe. "Ist Ihnen nicht wohl?" Die Frau antwortet: "Er hat Krebs. Aber er wollte die Vorstellung unbedingt sehen."

Zuerst Musik ... 

... dann Kampf. 

 
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