Wladimir und Estragon in Graubünden. Hinten die "Spezialisten der Vergänglichkeit". © Annette Boutellier.

 

 

 

Der letzte Schnee. Arno Camenisch.

Roman/Schauspiel.          

Jonas Knecht, Markus Karner, Anna Trauffer. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 9. November 2019.

 

 

66 Jahre nach der Uraufführung von "Warten auf Godot" hat das absurde Theater die Bündner Berge erreicht. Dort heissen Wladimir und Estragon Georg und Paul. Wie ihre vagabundierenden Vorgänger an die Landstrasse sind sie als sesshafte Skiliftangestellte an das "Hüttli" einer Talstation gebunden. Dort warten sie auf den Schnee und auf die Kunden. "Komm, wir gehen." "Wir können nicht." "Warum nicht?" "Wir warten auf Godot." "Ach ja."

 

Am linken Bühnenrand produziert Anna Trauffer mit Zither, Glasharfe und Bassgeige geheimnisvolle Klänge. Sie ziehen durch den Raum wie die schwebenden Mädchen in Giovanni Segantinis Bild "Die Strafe der Wollüstigen". Sie schaffen Atmosphäre. Sie erfassen auch die Gemüter der Männer, die zuweilen ins Summen und Singen geraten.

 

In dieser weltabgelegenen Station zieht sich die Theatralisierung von Arno Camenischs Roman "Der letzte Schnee" im Berner Schauspiel hin. Paul und Georg (Jonathan Loosli und David Berger) mischen Karten. Sie brauen Kaffee. Sie setzen sich an die Sonne. Sie zünden eine Zigarette an. Sie legen die Skiliftbillette bereit. Sie zählen die Nötli. Sie zählen die Bügel. "Nun wird es wirklich sinnlos." (Godot)

 

Sinnlos wird es, weil keiner kommt und keiner geht. Der Schnee fehlt. Da nützt es nichts, eine Tafel an den Weg zu stellen: "Skilift offen". Gleichwohl versehen die beiden Angestellten ungerührt ihren Dienst, Tag für Tag, Stunde für Stunde. "Man kann nichts dafür." "Was man auch anstellen mag." "Man bleibt, wie man ist." "Wie man sich auch winden mag." "Im Grunde ändert sich nichts." "Nichts zu machen." (Godot)

 

Für die Zuschauer wird der stumpfe Trott mit der Zeit zum mahnenden Exempel. "Wie spät ist es?" Während die Gletscher schmelzen und das Klima kippt, bleiben Paul und Georg in ihren Gleisen. "Was wottsch?" Sie schieben "den Ärmel der roten Jacke" noch zurück, um auf die Uhr zu sehen, wenn die "Spezialisten der Vergänglichkeit" (Luca Dimic, Mathis Künzler) das Dach der Skiliftstation längst abgetragen haben. Und sie streifen die Schuhe noch ab, nachdem die Bodenmatte, die Tür und die Wände im Lauf der Dekomposition verschwunden sind. Ja wahrhaftig. "Door sitten se noch bet up düssen Dag." (Von dem Fischer un syner Fru)

 

Wie der Roman und die Aufführung zeigen, hat die Absurdität unsere lieben Berge erreicht, die seit Menschengedenken die unberührte und unangreifbare Natur symbolisierten. Das Absurde prägt aber heute nicht mehr bloss eine vergangene theatergeschichtliche Epoche, sondern die Lage unserer Zivilisation. Um das schmerzhaft deutlich zu machen, bis es nicht mehr auszuhalten ist, dehnt die Inszenierung von Jonas Knecht die Schlaufen der Sinnlosigkeit bis in die gefühlte Unendlichkeit, will sagen: ein dreiviertel Stunden. Nichts passiert, ausser dass Stück um Stück des Bühnenbilds (Markus Karner) zerlegt wird. Die Aufführung aber verweigert sich der Ablenkung. Sie verweigert sich dem Vergnügen. Sie verrammelt die Türen zur Flucht.

 

Damit realisiert die Berner Schaubühne ein Programm, das Claus Bremer in den 1960er Jahren formuliert hat: "So bequem er auch zunächst erscheinen mag, wir haben es erfahren, der Konformismus macht ein menschliches Zusammenleben unmöglich. Alles, was nicht zur Stellungnahme zwingt, ist Ablenkung. Sie hindert die Menschen daran, sich als Menschen bewusst zu werden. Sie unterstützt die Mörder und ihre Helfer. Sie gefährdet uns. – Sich selbst zu begegnen, mag für manchen kein Vergnügen bedeuten. Wenigstens zunächst nicht. Ich habe es gehört, dieses 'Lassen Sie uns doch mal aussteigen, mal schwerelos werden, wir wollen doch auf eure Tricks hereinfallen, mal abgelenkt werden, von etwas, das doch gar nicht zu bewältigen ist'. – Wer so redet, dem fällt nicht auf, dass er unentwegt aussteigt. Dass er unentwegt auf Tricks hereinfällt. Dass er unentwegt abgelenkt wird. Wodurch erst all das möglich ist, wodurch er leidet."

 

Die Ästhetik und die Theorien, die in den 1960er Jahren fürs Theater formuliert wurden, passen heute auf unsere Welt. Nicht schlecht gedacht. Aber gleichwohl: Unoriginell. Verkopft. "Ich sage dir", erklärte Karl Solger schon 1815, "wer nicht den Mut hat, die Ideen selbst in ihrer ganzen Vergänglichkeit und Nichtigkeit aufzufassen, der ist wenigstens für die Kunst verloren." Das Berner Schauspiel jedoch erliegt dem grünen Konformismus und bedient das Bürgergewissen mit seinen heute korrekten Ideen. Damit bleibt es, künstlerisch betrachtet, so eng wie unsere liebe Schweiz mit ihren Tälern und Bergen.

 

In diesen Bergen und Tälern aber liegt nicht "der wahre Sitz der Kunst", wie ihn Solger definierte: "Hier muss der Geist des Künstlers alle Richtungen in einen alles überschauenden Blick zusammenfassen, und diesen über allem schwebenden, alles vernichtenden Blick nennen wir die Ironie." Am 9. Januar 1953 brachte Samuel Beckett diesen alles vernichtenden, ironischen Blick auf die Bühne. Vor ihm erweist sich die Uraufführung des "letzten Schnees" vom 8. November 2019 als zwar gutgemeintes, aber restlos überholtes Produkt der angewandten Theater­wissenschaft.

Niemand kommt.

Niemand geht. 

Verkopft. Unoriginell. 

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