Als Stück ein Flop. © lupisuma.com

 

 

 

Die Merowinger. Heimito von Doderer/Franzobel.

Schauspiel.

Anna Badora. Volkstheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Oktober 2019.

 

 

Neben dem Eingang zur Buchfeldgasse 6, 1080 Wien, steht eine Tafel. "Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" hat sie initiiert und mit einer Handvoll Freunden finanziert: "In diesem Haus wohnte der Schriftsteller Heimito von Doderer von 1938 bis 1956. Während dieser Zeit arbeitete er an den Werken: Tangenten, Die erleuchteten Fenster, Unter schwarzen Sternen, Die Strudlhofstiege, Die Posaunen von Jericho, Die Merowinger, Die Dämonen."

 

Keiner dieser Titel bezeichnet ein Schauspiel. Doderer war, wie sein norddeutscher Kollege Thomas Mann, ein herausragender Romancier und Erzähler; fürs Theater aber hat er nicht geschrieben. Doch die Dramaturgen am Volkstheater (und auch die drüben in der Josefstadt) glauben, es besser zu wissen. Sie greifen ins Büchergestell und lassen aus Doderers Romanen Stücke anfertigen. Der Verstorbene kann sich nicht wehren. Dafür bekommen die Erben Tantiemen, ohne einen Finger zu rühren. Und auch die Bearbeiter gehen nicht leer aus.

 

So wird das Werk des Toten vom Theater ausgeweidet. Drüben in der Josefstadt läuft seit Beginn der Spielzeit "Die Strudlhofstiege". 908 Seiten bei dtv. Ein Sakrileg. Im Volkstheater führen sie derweil "Die Merowinger" auf. 305 Seiten bei dtv. Ein Flop. Die Kritik verreisst beide Produktionen. "Das Beste", titelt der "Kurier", "ist die Blasmusik".

 

Am Volkstheater bietet Anna Badoras ungelenke, zähe Inszenierung zwei Stunden lang Zeit, darüber nachzudenken, warum "Die Merowinger" auf der Bühne nicht funktionieren. Die Kritiker formulieren ihre Vermutungen im Modus des "Man hätte eben g'scheiter ..." und schlagen Themen beziehungs­weise Handlungsstränge vor, die in ihren Augen wichtiger oder wirksamer gewesen wären. 

 

Niemand aber nennt den Kern des Übels: Die Spannung fehlt. Und dabei ist Spannung, wie Emil Staiger in seinen "Grundbegriffen der Poetik" 1946 nachgewiesen hat, die Haupteigenschaft des Dramatischen. Das Epische demgegenüber beruht auf dem gemächlichen Schildern.

 

An der Gemächlichkeit des Schilderns zerschellt jetzt die Produktion des Volkstheaters. Sie stellt Auftritte nachein­ander auf die Drehbühne; sie zitiert Situationen, Meinungen und Einstellungen herbei; Zug aber entsteht dadurch nicht. Denn Schildern ist undramatisch. So läuft die Bearbeitung der "Merowinger" durch den österreichischen Schriftsteller Franzobel aufs ernüchternde Fazit hinaus: "Das Beste ist die Blasmusik".

 

Hätte man das nicht wissen sollen? 1797 verfassten Goethe und Schiller zusammen einen Aufsatz "Über epische und dramatische Dichtung". Sie gingen darin der Eigenart der erzählenden und darstellenden Künste nach. "Es ist mir dabei recht aufge­fallen", schrieb Goethe in einem Begleitbrief, "wie es kommt, dass wir Modernen die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja dass wir gar nicht einmal imstande sind, sie voneinander zu unterscheiden."

 

222 Jahre später befinden "wir Modernen" uns immer noch im Status der hochmütigen Ignoranz. Wir wissen es nicht besser, nein, schlimmer: Wir wissen es nicht. Die Hochschulen haben uns den Master nachgeschmissen, bevor wir noch das Elementare begriffen haben. 

 

Vorbei die Zeit, als Professor Hans Hausammann Baustatik vortrug, die Königsdisziplin des Bauingenieurwesens. Wenn man ihn fragte, was die Studenten bei ihm lernen würden, antwortete er: "Die Basics: Ein Seil kann man nur ziehen, aber nicht stossen. Wasser fliesst stets abwärts, nie aufwärts. Einen Wagen bringt man nicht auf ein Parkfeld, das kleiner ist als der Wagen." Bei den "Merowingern" hat das Volkstheater versucht, das Seil zu stossen. Der zerbeulte Roman ist nicht mehr fahrtüchtig.

Das Ganze ist zu behäbig.

 
 
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