Die Zwiebel der Erkenntnis. © Joel Schweizer.

 
 

 

 

Peer Gynt. Henrik Ibsen.

Dramatisches Gedicht.                  

Katharina Rupp. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. September 2019.

 

 

Am Ende nährt sich Peer Gynt von Zwiebeln: "Jetzt will ich dich einmal schälen, mein Peer!" – "Nimmt eine Zwiebel", sagt die Regieanweisung, "und pflückt Haut um Haut ab". Der Held kommentiert die einzelnen Handlungsschritte: "Da liegt die äussere, zerfetzte Schale - der Gescheiterte." Dann kommt der Schiffspassagier: "Ein dünnes Häutchen." Der Goldgräber: "Der Saft ist weg." Der Pelzjäger. Der Altertumsforscher. Der Prophet. Der Herr. "Das hört ja nicht auf! Immer noch Schicht um Schicht! Kommt denn der Kern nicht endlich ans Licht?" Peer Gynt, sagt die Regieanweisung, "zerpflückt die ganze Zwiebel." (Für diesen Vorgang verwendet die heutige Psychologie den Begriff "Selbstanalyse".) Am Ende stellt Peer fest: "Da ist kein Kern. Bloss Häute." Das Ich das Helden besteht also nur aus einer Anhäufung von Oberflächen. Es fehlt das Unzerpflück­bare; die Substanz.

 

In der Literaturgeschichte apostrophiert man Henrik Ibsens "dramatisches Gedicht" gern als "nordischen Faust". Und in der Tat: Beide Schicksale führen, mutatis mutandis, vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Beide Helden ignorieren den Unterschied zwischen Haben und Sein. Und am Ende gelangen sie zur bitteren Erkenntnis: "Ich bin nur durch die Welt gerannt; / Ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren, / Was nicht genügte, liess ich fahren, / Was mir entwischte, liess ich ziehn. / Ich habe nur begehrt und nur vollbracht. / Und abermals gewünscht und so mit Macht / Mein Leben durchgestürmt ..." (Faust)

 

Peer und Faust präfigurieren in ihrer Rastlosigkeit die Oberflächlichkeit unserer Zeit. "Die Handlung", erklärt der norwegische Dichter, "spielt teils im Gudbrandstal mit seinen Bergen, teils an der Küste von Marokko, in der Wüste Sahara, im Tollhaus zu Kairo, auf der See usw." - In diesem "usw." spiegelt das Stück den Gedanken "überall Wahn: Welt = Tollhaus", und es erfasst damit die Substanzlosigkeit des heutigen Menschen.

 

Erich Fromm stellte fest: "Unsere Kultur führt zu einer unkonzentrierten und zersplitterten Lebensart, für die es kaum eine Parallele gibt. Man tut viele Dinge auf einmal; man liest, hört Radio, unterhält sich, raucht, isst und trinkt. Dieser Mangel an Konzentration zeigt sich ganz deutlich in unserer Schwierigkeit, mit uns selbst allein zu sein. Ruhig zu sitzen, ohne zu sprechen, zu rauchen, zu lesen oder zu trinken [oder zu wischen], ist für die meisten Menschen unmöglich. Sie werden nervös und unruhig; sie müssen irgendetwas tun, entweder mit dem Mund oder mit den Händen [bzw. dem Handy]."

 

In ihrer zurückhaltenden Inszenierung verzichtet Katharina Rupp darauf, das Stück wesentlich zu verschärfen oder zu verändern. So entsprechen die Leeren und Längen der Aufführung – von der Zwiebelmetapher her betrachtet – den Leeren und Längen unseres Lebens. Die Übertreibungen und Posen, auf die alle Figuren hinstilisiert werden, spiegeln unsere Übertreibungen, Posen und Stilisierungen. "Wozzeck stampft auf", schrieb Alban Berg: "Hohl! Alles hohl!"

 

Bleibt Fontanes Frage, "ob das Gewollte ein Zulässiges war". Das Premierenpublikum in Solothurn bejahte das mit lautem Klatschen. Doch Schauspielpremieren werden in den letzten Jahren immer beklatscht, egal, wo sie stattfinden. Der Einsatz des Ensembles, und vor allem des Peer-Darstellers Aaron Hitz, war zweifellos beachtlich. Aber es blieben die Leeren und Längen. Ohne sie wäre die Aufführung besser - und das Leben auch.

Vom Himmel ...

... durch die Welt ... 

... zur Hölle. 

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