Das Böse wird symbolisiert durch die Drohne. © Klara Beck.

 

 

 

Der Freischütz. Carl Maria von Weber.

Oper.                  

Patrick Lange, Jossi Wieler und Sergio Morabito. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Mai 2019.

 

 

Das Aussergewöhnliche passiert in der Tonspur. Und zwar vom ersten Takt an. Vier Schläge lang spielt das Orchester einen einzigen, anschwellenden Ton. Er geht von "pp" (pianissimo) zu "ff" (fortissimo). Dann erklingt, piano, das Weben des deutschen Waldes in verschatteter, geheimnisvoller Undurchdringlichkeit. "Adagio" hat Carl Maria von Weber darüber geschrieben. Bei Patrick Lange an der Spitze des Orchestre symphonique de Mulhouse grenzt das Tempo schon ans Lento. Damit bekommen die Anfangstakte eine Wucht, die aufhorchen lässt. "Der grosse Roman hat Zeit", pflegte Walther Killy zu sagen. Das Statement findet nun seine Anwendung in den Eingangstakten der "Freischütz"-Ouvertüre. Sie versprechen ein überlegenes Dispositionsvermögen, und das bedeutet: grosse Bögen, die die einzelnen Nummern umspannen und Szene für Szene, Akt für Akt zu einem Ganzen machen. Mit den konzeptionellen Bögen aber kommt Zug in die Sache, und Carl Maria von Webers musikalische Aussagen laufen auf etwas hinaus. Das ist jetzt zu hören. Die Grossräumigkeit macht Patrick Langes Interpretation un­gewöhnlich, ja meisterhaft.

 

Dasselbe Dispositionvermögen zeigt sich in der Qualität der Sänger. Sie sind alle stimmlich homogen und gestalterisch überzeugend. Dazu kommen die Glanzlichter durch sublime Diminuendi in sopranheller Höhe bei Agathe (Lenneke Ruiten), die Sarastroschwärze im strömenden Bass des Eremiten (Roman Polisadov), die klare und sichere Linie in der Tenorstimme von Max (Jussi Myllys) und die unaufgeregte Wärme im Sopran von Ännchen (Josefin Feiler).

 

Das Regieteam von Jossi Wieler und Sergio Morabito lässt der Musik den Vorrang und beschränkt sich auf konventionelles Arrangement in aktueller Kostümierung. Wenn Max singt: "Ob das Herz auch graust", legt er die rechte Hand ans Herz. Im übrigen ist die Gestik zurückhaltend, und die Sänger werden stehengelassen - was den Arien zugute kommt. Die Handlung spielt nicht mehr in Böhmen kurz nach dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs, sondern in einem Lasergamezentrum unserer Zeit. Die Spieler tragen modische Tarnkleidung, und Samiel wird symbolisiert durch den Schatten einer Drohne. Darauf läuft also die Entwicklung hinaus: Auf Gleichschaltung der Individuen. Auf Vermischung von Krieg und Spiel durch die Elektronik. Auf Gameingcharakter der computergesteuerten Armeebewegungen und auf Bellifizierung der Unterhaltungs­industrie. Damit durchwebt das Böse – wie vordem der Satan – alle Bereiche. Die Menschen jedoch sind sich abhandengekommen und sprechen wie Roboter. Deshalb ist jetzt auf der Bühne kein natürlicher Dialog mehr zu hören. Die Unmenschlichkeit erreicht ihren Gipfel in Samiels Lautsprecherstimme, die an die Perrondurchsagen der Deutschen Bahn erinnert.

 

Was die Technifizierung für einen Verlust bedeutet, bringt der "Freischütz" am Opéra national du Rhin zu Bewusstsein. Carl Maria von Webers Musik aus dem Jahr 1821 lässt noch das vielgestaltige Leben erklingen - in seiner ganzen Bandbreite von Hass, Spuk, Grausen, inniger Frömmigkeit und warmer Liebe. Auf der Bühne der aktuellen Inszenierung aber begegnen wir lauter unglücklichen, fremdbestimmten Einzelwesen - fast wie im Leben.

Gleichschaltung von Krieg und Spiel.

Lauter fremdbestimmte Einzelwesen.

 
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0