Wie einer "sich abhanden" kommt. © Ursula Kaufmann.

 

 

 

Winterreise. Gregor Zöllig/Hans Zehnder/Franz Schubert.

Tanzstück.

Gregor Zöllig. Staatstheater Braunschweig.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. Mai 2019.

 

 

Die Abmachung war, dass ich in die Vorstellung sitzen dürfe, ohne etwas darüber schreiben zu müssen. Denn ich verstehe nichts von Tanz und Ballett. Bei Ballett langweile ich mich, und bei Tanz komme ich nicht mit. Doch dann zeigte sich: Man braucht weder Fachmann noch Aficionado zu sein, um von Gregor Zölligs ungemein dichter und berührender "Winterreise" mitgenommen zu werden. Sie bietet Theaterkunst der ersten Klasse. Und das lässt sich begründen.

 

Den Kern bildet ein klarer Werkgedanke: Fortschreibung der Wanderung durch eine verschneite Winterlandschaft. 1823/24 bringt Wilhelm Müller den Weg in "Sieben und siebzig Gedichte[n] aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten" an die Öffentlichkeit. Aus ihnen bildet Franz Schubert einen Zyklus von 24 Liedern für Singstimme und Klavier. Die Bewegung pflanzt sich also fort – vom Raum ins Wort, und vom Wort in die Töne. Dabei ereignen sich verschiedene Verwandlungen: Die Ereignisse geraten aus der Einmaligkeit in die Wiederholbarkeit und aus der Wirklichkeit in die Gedanklichkeit. Jedes Mal aber gestaltet das neue Medium die Geschichte um, intensiviert ihre Wirkungen und bereichert sie mit neuen Sinnaspekten.

 

1993 nimmt Hans Zehnder Schuberts "Winterreise" auf und setzt sie in eine sogenannte "komponierte Interpretation" um. Damit verwandelt sich die Bewegung der Klaviertöne abermals in eine Partitur für kleines Orchester. Dieses umfasst neben den vornehmen klassischen Instrumenten auch ein Akkordeon, eine Gitarre, einen Gong, ein Xylophon, ein Glockenspiel und eine Windmaschine - das heisst, die Neukomposition verlängert die ursprüngliche Tonsprache ins Zitat, aber auch ins Ungewöhnliche, ins Anrührende und ins Reale. Damit fügt sie dem Werk, wie jede Interpretation, weitere Dimensionen bei.

 

In Braunschweigt nimmmt der Choreograf Gregor Zöllig die Bewegung des Wanderers - festgehalten von Wilhelm Müller, fortgeschrieben von Franz Schubert, verlängert und ausgedeutet von Hans Zehnder - nochmals auf und gestaltet sie um zum Tanzstück. Wie seine Vorläufer denkt und fühlt sich Zöllig in den Kern jener Situation ein, die dem Dichter und den Komponisten den Impuls zur Ausgestaltung ihrer Werke gegeben hat. So entwickelt der Choreograf das Vorgefunde weiter und bringt es zugleich in die Sphäre von Raum und Zeit zurück, aus der es hergekommen war. Nur erscheint das Geschehen jetzt, auf der Bühne, verwandelt, intensiviert, und, wie Goethe gesagt hätte, auf neuartige Weise bedeutend.

 

Weil im Braunschweiger Staatstheater alles zusammenstimmt, ergibt sich eine wirkungsstarke Konzentration der Kräfte. Durch sie bekommt das Werk, welches beschreibt, wie einer "sich abhanden" kommt, Schönheit, Intensität, Wucht und Aussagereichreichtum. Der Zuschauer wird davon berührt, als wäre die "Winterreise" ein Teil seines eigenen Schicksals. Damit schafft die Truppe einen Theaterabend, der nicht nur Tanzkenner und Aficionados erreicht, sondern auch Menschen wie du und ich, denen ein fühlend' Herz gegeben wurde.

Das Gedicht verwandelt sich ... 

... zurück in Raum und Zeit.

 
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