Reiche Orchestrierung: Dreifache Simultanbühne plus Vordergrund. © Annette Boutellier.

 

 

 

Der Elefant von Murten. Uwe Lützen.

Schauspiel.                  

Jonathan Loosli, Mathis Künzler, Renato Grob, Justina Klimczyk, Moritz Schneider, Christian Aufderstroh. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. April 2019.

 

 

Die sechs Bagatellen Opus 126 von Ludwig van Beethoven dauern zwischen zwei und dreieinhalb Minuten, mit Ausnahme der vierten, Presto (4'17 Minuten in der Wiedergabe von Jos van Immerseel). Demgegenüber braucht das Stadttheater Bern für die Uraufführung von Uwe Lützens "Der Elefant von Murten" zwei Stunden und fünfzig Minuten – also viel zu lang für eine Bagatelle. Kleist hätte sie in zehn, höchstens fünfzehn Zeilen abgefertigt. Beim Schreiben nämlich hatte der unübertreffliche Prosaist und Dramatiker stets ein "Wozu?" vor Augen, das seinen Sachen Konzision gab. Das Berner Stadttheater hingegen malt behäbig ein lokales "fait divers" aus und verliert dabei – wie üblich bei folkloristischen Veranstaltungen – den Sinn für Rhythmus und Proportion.

Wenn es ein "Wozu?" gibt, das der Solothurner Drehbuchautor Uwe Lützen mit seinem Bühnenerstling bedient, ist es die Wiedererkennbarkeit: die Ringmauer, das Weisse Kreuz, der See, der Vully und das "Städtli" mit seinen beschränkten und deshalb pittoresken Gestalten. Der Metzger Frey ruft während der ganzen Aufführung einförmig nach seinem Sohn: "Jeremias! Gopferdammi!" Und dem stotternden Stadtpräsidenten Stock entringt sich beim vergeblichen Versuch, die Gemahlin zu besteigen, immer wieder der Ruf: "Herrgott! Es geht nicht!" So reiht das Schauspiel auf dreifacher Simultanbühne plus Vordergrundaktion Bild an Bild. "Auch geeignet für Kinder ab 10 Jahren", sagt dazu der Spielplanprospekt.

Nach der Dramaturgie des Zufalls (das Alte Testament braucht dafür die Formel "Und es begab sich...") begibt es sich, dass "eines Tages" in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Zirkus ins verschlafene Städtchen einbricht, "und daraufhin" (so die Formel für die Fortsetzung) verliebt sich der Sohn des Metzgers in die Seiltänzerin. Wir begegnen damit dem altvertrauten Gegensatz von Kunst und Bürgerlich­keit, Traum und Pragmatismus, wie ihn vor hundert Jahren schon – ebenfalls mit breiten Pinsel – Hermann Hesse und die Brüder Mann in ihren dicken Büchern ausgemalt haben. "Auch geeignet für Kinder ab 10 Jahren."

Daraufhin begibt es sich, dass der Zirkuselefant, vom Lärm der Bürger aufgescheucht, losbricht und den Zirkusdirektor tottrampelt. Daraufhin richten die Murtener eine Kanone auf ihn, und der Metzgerssohn erledigt mit dem Geschoss das Tier und seine Träume. Daraufhin verlässt er die Vaterstadt. Daraufhin sucht er die Geliebte auf allen Kontinenten. Doch mit welchem Geld er durch die Welt reist und welche Tätigkeiten er annimmt und was am Ende aus ihm geworden ist, verschweigt der Ich-Erzähler, den die überaus reich orchestrierte Produktion zu allem Überfluss auch noch einbaut. Auf diese Weise führt die Aufführung in die wohlvertrauten, Andeutungsreichtum suggerierenden drei Pünktchen ... (Auch geeignet für Kinder ab 10 Jahren.)

Georg Büchmann erzählt, der französische Dichter und Libertin Jacques Vallée Des Barreaux (1599-1673) habe an einem Freitag, also einem Fasttag, "während eines Ungewitters im Wirtshaus einen Eierkuchen mit Speck bestellt. Als der fromme Wirt dieses Gericht widerstrebend auftrug, erfolgte ein heftiger Donnerschlag, so dass der Ärmste vor Entsetzen in die Knie sank. Da ergriff Des Barreaux seinen Eierkuchen und warf ihn zur Beruhigung des Mannes aus dem Fenster mit den Worten: 'Tant de bruit pour une omelette!' "

 

In Bern liefert Uwe Lützen den Eierkuchen. Das Regieteam mit Jonathan Loosli und Mathis Künzler (Bühne: Renato Grob, Kostüme: Justina Klimczyk, Musik: Moritz Schneider, Licht: Christian Aufderstroh) organisiert, unter Beizug aller Register, das Ungewitter und, besonders stupend, den heftigen Donnerschlag. Um den Elefanten zu erledigen, wird eine Riesenkanone gegen das Publikum gerichtet (Rohrdurchmesser über einen Meter!). Nun erfolgt der Schuss. Weisser Rauch steigt waagrecht aus dem Lauf und bewegt sich durchs Parkett. An der Spitze der Bahn: Ein Kreis aus Pulverdampf, der sich unter dem Balkon verliert. "Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!" (Goethe, Faust I) "Der Elefant von Murten" - nichts als Schall und Rauch.

 

Nun könnte man den Aufwand ja so rechtfertigen, dass es darum gehe, mit dieser Produktion Kinder und andere theaterferne Schichten anzufixen und ins Haus am Kornhausplatz zu bringen. Gut. Aber ist damit wirklich gewährleistet, dass sie wiederkommen, wenn anspruchsvolles, echtes Schauspiel aufgeführt wird wie beispielsweise "Professor Bernhardi"? Diese Komödie in fünf Akten von Arthur Schnitzler kam letztes Jahr als Gastspiel der Berliner Schaubühne in der Inszenierung von Thomas Ostermeier nach Paris, und die französische Kritik fiel davor in die Knie. Wie hätte sie erst reagiert, wenn sie die aktuelle Aufführung der Josefstadt Wien unter der Regie von Janusz Kica gesehen hätte? Oder die legendäre Inszenierung von Brechts Meisterschülerin Angelika Hurwicz am Burgtheater? Gleichviel. Am Ende fragte die Pariser Presse: "Warum hat man uns dieses grosse Stück über ein Jahrhundert lang vorent­halten?" Die selbe Frage geht auch an Bern. "Professor Bernhardi" wurde hier, pars pro toto, noch nie gegeben. Am Stadttheater herrscht zur Zeit Nachholbedarf an anspruchsvoller Dramatik.

 

Ich-Erzähler und Figur.

Zirkus und Bürgerlichkeit. 

Verführung und Moralität. 

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