Das schwarze Gefängnis des Ichs. © Marshall Light Studio.

 

 

 

Dido and Aeneas. Henry Purcell.

Oper.                  

Andreas Reize, Anna Drescher, Hudda Chukri. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. April 2019.

 

 

Regisseurin Anna Drescher hat die letzte Nummer verdoppelt und an den Anfang gestellt. Wenn der Vorhang aufgeht, vernimmt man deshalb als erstes die Trauerarie "Dido's Lament", mit der Henry Purcells Kurzoper schliesst: "When I am laid, am laid in earth, May my wrongs create / No trouble, no trouble in thy breast; / Remember me, remember me, but ah! forget my fate. / Remember me, but ah! forget my fate." Die selben Verse ertönen am Ende noch einmal. Die Aufführung ist also zyklisch gebaut. Sie beschreibt einen Kreis; nicht eine Linie, die weit oben anfängt (Empfang des trojanischen Königs am karthagischen Hof, Einwilligung zum Ehebund) und weit unten endet – im Selbstmord der verzweifelt liebenden Dido.

 

Damit ist klar, dass alles, was wir auf der Bühne sehen, eine Rückschau darstellt, die sich im Kopf einer Sterbenden abspielt. Niemand kommt hinein, niemand kommt hinaus. Der Chor als Vertreter der Realität erscheint hinter Gucklöchern - abgetrennt vom schwarzen Gefängnis des Ichs, in dem sich beim Verlöschen noch einmal Triebe, Wünsche, Erinnerungen und Ängste fratzenhaft kreuzen. Anna Dreschers Konzeption erlaubt demzufolge keine "Aufzüge" im Sinne von Akten, Bildwechseln und Massenauftritten, wie sie das barocke Theater liebte; auch das Gewitter entfällt; man hört nur noch das Donnerblech; stattdessen bringt die Aufführung mit Insistenz die dunkle Mühle der Reflexion, in der ein einziges Thema zermahlen wird: Die zerrissene und leidende Frau.

 

Um den Riss darzustellen, der durch Didos Seele geht, werden die Gestalten des Guten und des Bösen, des Klaren und des Dämonischen zusammengelegt. Die Sängerin der Dido (Carine Séchaye) trägt auch die Linien der Zauberin und des Geistes (Spirit) vor. Und ihre Begleiterinnen singen nicht bloss die Einwürfe der Hofdamen, sondern auch die Partien der ersten und der zweiten Hexe. So bringt die Bühne (Hudda Chukri) keine Geschichte mehr, sondern einen Albtraum. Um ihn zu verstehen, braucht es einen Schlüssel. Theater Orchester Biel Solothurn liefert ihn im Programmheft und in den Einführungen dreissig Minuten vor der Vorstellung. Was aber weiterhin fehlt, ist der "Wechsel der Töne", den Walther Killy, Hölderlin zitierend, als Bestandteil aller grossen Kunst ausgemacht hat.

 

Im Orchestergraben indes ist die Vielfalt der Farben noch zu finden. Dafür sorgt Henry Purcells Komposition mit einem lebendigen Wechsel von Rhythmen, Melodien und Verzierungen. Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn vollzieht ihn packend und engagiert. Dirigent Andreas Reize, ein Spezialist für Alte Musik, hat das lückenhafte Werk sensibel ergänzt und dafür gesorgt, dass die Instrumentierung neben Cembalo und vierstimmigen Streichern auch Laute, Blockflöten und Orgel aufweist. So steigt aus den Instrumenten, die den Ton mit Luft hervorbringen, immer wieder ein warmer Hauch. Er erfüllt das Herz mit Melancholie. Auf diese Weise schafft Purcell, wie Percy A. Scholes feststellte, "a rare gentle beauty". Nach ihr sehnt man sich noch lange, nachdem der Vorhang gefallen ist.

 

Die zerrissene und leidende Frau. 

 
 
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