Diese Familie ist ein reines Standbild. © Thierry-Laporte-Unijambiste-Cie.

 

 

 

Le Fils. Marine Bachelot Nguyen.

Schauspiel.                  

David Gauchard. Production L'Unijambiste im Théâtre du Rond-Point, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. März 2019.

 

Der Produzent nennt sich "Der Einbeinige" (L’Unijambiste). Ein guter Firmenname für das Einfrauenstück, das er in Frankreich auf die Reise schickt. Denn sein Thema ist die Einseitigkeit. Zwanzig Gastspielorte weist der Tourneeplan aus. In Châtenay-Malabry (33'000 Einwohner) kam der Monolog am 12. Dezember letzten Jahres zur Uraufführung. Darauf folgten Rumilly (15'000 Ew.), Villeneuve-d’Asc (63'000 Ew.), Bressuire (19'000 Ew.), Kingersheim (13'000 Ew.), Lons-le-Saunier (17'000 Ew.), Redon (9'000 Ew.), Saint-Lyphard (4'000 Ew.), Vernouillet (10'000 Ew.). Jetzt macht die Produktion für einen Monat Halt in Paris (2'190'000 Ew.). Dann geht sie weiter in die Provinz. Die Schauspielerin Emmanuelle Hiron steht jeweils eine Stunde zehn auf der Bühne (Applaus eingerechnet) und rezitiert den jüngsten Text von Marine Bachelot Nguyen, einer Spezialistin für feministische und postkoloniale Anliegen. David Gauchard, der Regisseur und Bühnenbildner des Abends, hatte dazu laut Programmzettel die "idée originale".

 

Die Handlung spielt in der jüngsten Vergangenheit. 2011 beginnen sich die französischen Katholiken zu mobilisieren, um die Homoehe zu verhindern. Eine Apothekerin in der Provinz, verheiratet, zwei Söhne, wird von der Bewegung ergriffen und marschiert an der Spitze der Demonstrationen mit. Auf der Bühne trägt sie die Geschichte ihrer – sagen wir: Radika­lisierung vor. Sie zeigt das klassische Hineinrutschen und Entflammtwerden durch die Masse der Brüder und Schwestern, die den wahren Glauben haben und verlangen, dass man für ihn einsteht.

 

Lange bevor die Mutter den Braten riecht, ahnt das Publikum schon, dass der jüngste Sohn schwul ist. Das Dilemma zwischen der Kindesliebe und der religiösen Pflicht, in das die Mutter gerät, übersetzt der Text durch drei unterschiedliche Sprechweisen. Erstens die direkte Anrede ans Publikum: "Und Sie? Schlagen Sie eine solche Einladung aus?" Oder: "Was sagen Sie Ihrem Mann?" Zweitens die indirekte Form des Erzählens: "Sie ging jeden Sonntag zur Messe. Für das Geschäft war es wichtig, diese Kundschaft zu haben." Drittens die Ich-Form: "Ich war es, die an einem Novemberabend mit dem Segen meines Mannes die Apotheke etwas früher verliess, um mich der Demonstration anzuschliessen."

 

In der Einförmigkeit dieses Sprachwechsels kann man die Einförmigkeit des Geschäfts- und Familienlebens in der Provinz erkennen. Dazu gehört die klischierte, voraussehbare Figurenzeichnung. Aber aufgepasst! Dem Klischee entsprechen auch die Pariser Premierenzuschauer mit Stoppelbart und Haarknoten, die bis zum Vorstellungsbeginn auf dem Handy herumwischen. "Was ist das Allgemeine? / Der einzelne Fall. / Was ist das Besondere? / Millionen Fälle." (Goethe)

 

Unter diesen Bedingungen fügt es das Geschick, dass sich der schwule Maturand in der elterlichen Apotheke mit einem Medikamentenmix das Leben nimmt. Es ist klar: Ohne die homophobe Verblendung der französischen Katholiken lebte der Junge noch. Diese Botschaft trägt nun L’Unijambiste in die französische Provinz, wo sie am tiefsten ist und wo die anarcho-faschistischen Gilets Jaunes herkommen. Die Schauspielerin tritt dabei ganz bescheiden auf, als wäre sie "eine von uns". Gäbe es nicht die ambitiöse Textbrechung, könnte man die Inszenierung geradezu als dokumentarische Aussage auffassen. Jetzt aber steht sie mit einem Bein in der - sagen wir: Kunst, und das tut ihr nicht gut. Einst pflegten die Lehrer in solchen Fällen unter den Aufsatz zu schreiben: "Weniger wäre mehr." Oder auf Französisch: "Ne fais pas l'important." Das gilt heute noch. Für die Provinz. Für Paris. Für uns.

Die Bühne zeigt allein die Mutter.

Der Sohn kommt nur im Wort zur Erscheinung ...

... wie auch, im Pressebild, der Vater. 

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