Das Stück: Perversität, Religion und Blasphemie. © Konrad Fersterer.

 

 

 

Der Balkon. Jean Genet.

Schauspiel.                  

Ivica Buljan, Aleksandar Denić. Residenztheater München.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.

 

 

Wenn Romantik Aufbruch bedeutet - und Aufbruch: Auflösung der Grenzen, Übergänglichkeit - so ist Ivica Buljans Inszenierung des "Balkons" das romantischste Werk, das seit Richard Wagners "Tannhäuser" auf die Bühne gekommen ist. Im "Sängerkrieg auf der Wartburg" stossen Himmel und Hölle zusammen. Und im Münchner Residenztheater: Wirklichkeit und Imagination, Politik und Perversität, Religion und Blasphemie, Eros und Thanatos. Drei Stunden lang dauert die Aufführung, um in immer neuen Wendungen alles durcheinanderzubringen, was bisher säuberlich getrennt war.

 

Aufgelöst ist von Anfang an die Trennung von Text und Musik, Sprache und Gesang. Wenn man hereinkommt, wird man von einer Combo begrüsst. Lange meint man, sie habe nur Begleitfunktion. Doch dann stellt sich heraus, dass jeder Mitwirkende nicht nur verschiedene Instrumente übernehmen kann, sondern auch verschiedene Rollen. Und diese Rollen spielt er mal verfremdet, mal unverfremdet. Im Spiel mit Kostümen und nackter Haut, Requisiten und Handlungen gerät im "Balkon" mit der Zeit alles durcheinander. Dies entspricht – denkt Genet – der Wirklichkeit. Und es entspricht - denken wir - dem romantischen Weltbild. So kommen die unterschiedlichsten Gedankenwelten ins Rutschen (das verlangt die Tendenz zur Destruktion), aber auch ins Tanzen (das verlangt die Tendenz zur Gestaltung). Am Ende des Spiels zeigt Aleksandar Denićs Bühne das Chaos, mit dem alles begann (Ovid: rudis indigestaque moles). Da liegen Scherben und Trümmer, Bier und Blut, Menschen und Objekte wild durcheinandergeworfen. Und die Klänge der Combo mit den Schauspielern an den Instrumenten begleiten die Zuschauer hinaus in die Nacht.

 

Aufgehoben wurde im Lauf des Abends auch die Trennung zwischen Zuschauerbereich und Bühne. Einzelne Darsteller lösten sich aus dem Publikum und begannen mitzuspielen; etwa der alte, zottelige, nackte Mann, der sich lange im Hintergrund gehalten hatte, um dann als Voyeur sein eingeschrumpftes Gemächte zu bearbeiten. Ein klarer Akt der Grenzüberschreitung, die Genet so wichtig war. (Das Stück spielt immerhin in einem Puff.) Die Aufhebung der Trennung lief aber auch in umgekehrter Richtung: Ein nackter Schauspieler sprang in den Saal und turnte geschmeidig zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern herum. Dann rief er alle auf, Chantal zu suchen, und führte sie hinaus ins Freie. Ein paar Junge und Ältere kamen aus dem Schnee nicht mehr zurück.

 

Im Saal aber wurden weitere Tabus niedergerissen: Ausdrücklich dazu eingeladen, verfolgten die Gäste die zweite Hälfte der Vorstellung mit Bechern und Flaschen (wo es sonst immer heisst: "Getränke mitnehmen verboten!"). Bei einer besonders sprechenden Aufstellung wurden sie sogar aufgerufen, die Szene mit dem Handy festzuhalten (wo es sonst immer heisst: "Fotografieren und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen verboten!"). So löste die Inszenierung alle Usanzen auf, die bis anhin in Geltung gestanden waren. Aus dieser Radikalität bezog sie ihre Kraft, und im Zusammenbringen des Getrennten schuf sie, wie schon Aristoteles erklärte, ihren Humor. So wild jedoch das Ganze anmutete, so nah war es an Genet. "Das Thema des Ganzen ist letztlich das Theater selbst: 'Der grosse Balkon' ist das Bordell, in dem das Leben nachgespielt wird; alles – auch der gesellschaftliche Konflikt, die Revolution – wird als Theater-Spiel begriffen. Die Revolution wird den Gesetzen des Theaters unterworfen; am Schluss triumphiert die Falschheit, der Verrat an der Wirklichkeit." (Anneliese Bottond)

 

Genau besehen tritt mithin zutage, dass das Chaos selten noch strenger gedacht worden ist als im Residenztheater, wo die Inszenierung alle Keime, die in der Vorlage stecken, mit frecher Grandezza zur Darstellung bringt. Obszönität entsteht ja nur durch Trennung des Anständigen vom Unanständigen. Jenseits von Gut und Böse aber liegt das Reich von Traum und Poesie -  Sehnsuchtsort all jener, die an der Wirklichkeit leiden, also der Romantiker. Dies bringt Ivica Buljans "Balkon" imponierend zum Ausdruck. Die Aufführung wird damit zur romantischsten Produktion, die seit Wagners "Tannhäuser" auf Bretter gekommen ist.

Im Spiel mit Kostümen und nackter Haut ...

... Requisiten und Handlungen ...

... gerät mit der Zeit alles durcheinander.

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