Verknüpfung des Privaten mit dem Politischen. © Thomas Aurin.

 

 

 

Macbeth. William Shakespeare/Amir Reza Koohestani.

Tragödie.

Amir Reza Koohestani. Münchner Kammerspiele.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.

 

 

Wie kommt es, dass man bei gewissen Produktionen von der ersten Sekunde an spürt: "Das wird gut!"? Das letzte Mal geschah es ebenfalls bei Shakespeare: In Thomas Ostermeiers "Was ihr wollt"-Inszenierung an der Comédie-Francaise. Der Berliner Theatermann schickte als erstes einen grossen alten Schauspieler vors Publikum: Denis Podalydès. Sein blosses Auftreten schon nahm einen gefangen.

 

Und jetzt wieder: Walter Hess. Er tritt an die Rampe und ruht ganz in sich. Mit einer tiefen, sonoren Stimme und einer wunderbar wohlklingenden und doch scharfen Artikulation bestrickt er das Zuschauerohr. Dabei spricht er nur von allgemeinen Geschäftsbedingungen: Es werde Blut zum Einsatz kommen, viel Blut, denn "Macbeth" sei ein blutiges Stück; darum habe es der Geschäftsführer dem Intendanten auch ausreden wollen; denn es sei nicht zu ausdenken, welche Forderungen auf das Theater zukämen, wenn die Kleider der Menschen in der ersten Reihe mit dem roten Saft in Kontakt kämen. Daran, dass im Nahen Osten in jeder Stunde die Leiber der Menschen mit echtem Blut in Kontakt kommen, denkt im Zuschauerraum noch niemand.

 

Heimito von Doderer, der für seine Romane auch immer faszinierende Anfänge fand, nannte diese Technik den tangentialen Einstieg. Das Werk beginnt weit aussen (im konkreten Fall: bei uns), und gleichwohl spüren wir, dass in eine Mitte gezielt wird. Und die Beziehung zwischen einem Hier und einem Dort schafft Spannung.

 

Die Sicherheit der Gebärde, mit welcher dieser erste Zug getan wird, verrät den Meister. Bei "Macbeth" heisst er Amir Reza Koohestani. Der Vierzigjährige gilt "als einer der bedeutendsten iranischen Theatermacher seiner Generation", schreiben die Kammerspiele in ihren Presseunterlagen. Und nach neunzig Minuten ist die Aussage nachvollziehbar. "Die Aufführung soll gut sein", erklärt Tilly ("eigentlich Ottilie"), die Garderobiere. "Ich merke es daran, dass niemand die Vorstellung verlässt."

 

Koohestani arbeitet mit dem gleichen Material wie die andern (also Drehbühne, Video, Musik, Blut, Mikrofon, Headsets), und doch unterscheidet sich seine Arbeit grundlegend von der der andern. - Als Roland Donzé an der Universität Bern noch Philologie unterrichtete, sagte er: "Ich merke immer, wenn eine Arbeit von einem Juden geschrieben wurde. Woran? An der besonderen Fluidität. Das Denken der durchschnittlichen Studenten hat etwas Schematisches. Die Juden aber, die können mit den Gedanken spielen." Diese besondere jüdische Fluidität nun findet sich - wen wundert's? - in den Münchner Kammerspielen bei Amir Reza Koohestanis "Macbeth". Ja, Nathan: Im Osten ... drei Söhne ... alle gleich zu lieben ... der Vater ... sich nicht entbrechen konnte ...

 

Weil Koohestani Theater nicht nur zu "machen" versteht, sondern mit der Bühne, ihrem Material und den Darstellern zu spielen und zu zaubern vermag, reicht sein Werk - wie das Shakespeares – in viele Dimensionen. "Dr. Beckmanns Fleckenteufel" kommt auf die Bretter, aber auch der Krieg in Syrien. Zwei Flüchtlinge sollen in sehr gebrochenem Deutsch die Figuren Rosse und Donailbain verkörpern. Flüstert der eine zum andern (die Übertitelung zeigt's an): "Er hat uns diese Zweiminuten-Rollen nur gegeben, damit das Stück politisch ist." So wird der Theaterabend, der über tausend Abgründe hinweg das Kleine mit dem Grossen verbindet und das Private mit dem Politischen, zusammengehalten durch das, was die Kunst menschlich macht: den Humor. "Wir haben alle das gleiche Los. Darum, Freunde, nehmt es leichter! Nehmt es grösser, nehmt es weiter! Seid nicht so streng miteinander!" (Hanns Dieter Hüsch)

 

Daneben zeigt sich das Können des Theatermanns an seiner Fähigkeit, grosse Bögen zu schmieden, und zwar sowohl im Technischen wie im Inhaltlichen. Reden wir zuerst vom Inhaltlichen: Eine der berührendsten Szenen passiert auf einer Probenpause (Theater im Theater). Der Syrer bringt die Sätze Donailbains nicht in den Mund. "Soll ich sie dir noch einmal vorsagen?", fragt Walter Hess. "Ja, bitte!" Der Alte spricht den Text unsagbar schön. Das Handy des Syrers nimmt die Passage auf. Es ist ganz still. Dann tritt der Regisseur dazu, die Arbeit wird wieder aufgenommen, an der und jener Stelle wird gefeilt, die Dimensionen hinter dem Stück treten ins Blickfeld ("Macbeth" gleiche einer Fahrt mit Vollgas in die Mauer), und jetzt muss der Syrer die Sätze seiner Episodenrolle aufsagen. Vom Handy kommen die deutschen Sätze, der Flüchtling spricht sie in seiner Muttersprache mit - - und in diesem Moment vollzieht sich die Kernschmelze. Orient und Okzident fallen in eins. Von einer kleinen Gruppe Menschen guten Willens, die Theaterkunst als Gegenentwurf zum Wahnsinn der Geschichte realisieren, werden europäisches Mittelalter und östliche Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt. Und mit der Darstellung gelebter Humanität in dieser grossen Vorstellung wirft die Aufführung ein kritisches Licht sowohl auf das schottische Stück wie auf die politische Aktualität.

 

Um das herzustellen, schmiedet die Inszenierung über den ganzen Abend hinweg einen grossen technischen Bogen. Sie fährt die Vorbühne herunter ("damit kein Risiko besteht, dass Blutspritzer in die erste Zuschauerreihe fallen", erklärt Walter Hess). Später, in der Mitte des Abends ("Probenpause"), geht ein Zwischenvorhang nieder, während die Vorbühne aufgefahren wird und einen Tisch zeigt, an dem die Schauspieler mit ihren Manuskripten sitzen. Dann verschwinden sie wieder in der Versenkung, und das Spiel geht auf der Hauptbühne weiter. Am Ende, man hat es gar nicht bemerkt, ist das Podium wieder oben, und nun kommt Macbeth-Darsteller Christian Löber ganz nach vorn an die Rampe und beendet das Spiel dort, wo es angefangen hat: Mit der Ansprache eines Schauspielers an das Publikum. Der Abend brachte, sagt er, "ein Märchen, erzählt von einem Idioten, voller Lärm und ganz bedeutungslos." Einspruch! Warum sollten wir nichts von den Künstlern und Narren lernen, wo doch die Verständigen so viel Unsinn anrichten? Es lebe das politische Theater der Münchner Kammerspiele!

Hervorragend besetzt: Macbeth (Christian Löber).

Der eindrückliche Sprecher Walter Hess als Duncan. 

In der Probenpause passiert die Kernschmelze. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0