Bosse, die Hauptfigur, heisst später Mio. © Jan-Pieter Fuhr.

 

 

 

Mio, mein Mio. Astrid Lindgren.

Familienstück.              

Joachim von Burchhard, Jeannine Simon. Staatstheater Augsburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.

 

 

Die Kinder freuen sich aufs Theater. Während die Grossen am Buffet stehen, um Getränke für die Pause zu bestellen, rennen die Kleinen in Scharen durch das ganze Haus. Besonders angetan hat es ihnen der Gang zwischen der ersten Zuschauerreihe und dem geschlossenen roten Vorhang. Vielleicht, weil da alle Sitzenden mitbekommen, wie schnell sie flitzen und huschen können. Noch aufregender freilich sind die beiden Seitengänge: Bei jedem zweiten Schritt eine Stufe! So geht es wieselflink treppauf, treppab, bis sich durch eine Anhäufung stummer Signale das Kommando durchsetzt: "Halt! Jetzt ist genug gealbert! Kommt jetzt zu uns an eure Plätze!"

 

Vom Platz aus geht es weiter - nach hinten, nach vorn, zur Seite - mit dem aufgeregten Austausch zwitschernder Stimmen, die unbändige Erwartung ausdrücken: "Wie lange geht es noch?" Doch wie wenn jemand den kleinen Figuren das Stromkabel ausgezogen hätte, wird es aufs Mal augenblicklich still. Es genügte ein einziges Wort aus dem Lautsprecher: "Du!" Solch augenblickliche Stille bringen die Erwachsenen nicht zuwege. Sie  müssen mehrmals geschubst werden, bis sie ihr plapperndes Maulwerk abstellen. Die Kinder aber legen gleich den Schalter um: "Du! Ja, du da mit dem Handy. Stell es ab! Sofort!"

 

Höher kann die Erwartung nicht mehr steigen. Jetzt gleitet der Vorhang ein Stück auseinander, und eine blonde Frau tritt vor. Sie spielt Bosse, die Hauptfigur, die später Mio heisst. Dass sie eine Erwachsene ist und kein Kind, eine Frau und nicht ein Junge, ist für die Geschichte und die Zuschauer ohne Konsequenz. Kinder können solche Verschiebungen korrigieren, ohne gleich an den Brechtschen Verfremdungseffekt zu denken. - Von ihnen kann man auch noch ein paar weitere Sachen lernen. Zunächst einmal, wie wichtig der Vorhang ist. Er teilt den Raum in ein Davor und Dahinter, ein Jetzt und ein Jetzt gleich. Und wenn er sich öffnet, geleitet die Welt der Wirklichkeit hinein in die Fiktion.

 

Nicht auszudenken, wie sich die Vorstellung angelassen hätte, wenn die eintretenden Kinder auf eine offene Bühne gestossen wären. Sie hätten gleich gemerkt, dass da gleichgültige Menschen vorgeben, sie seien beschäftigt, und nach wenigen Sekunden hätte sich ihr Blick von ihnen abgewandt, weil die Gegenwart anderer Kinder interessanter ist als das einförmige Tun von Erwachsenen, mit denen man keine Beziehung hat.

 

Kinder brauchen Geschichten. Dabei ist das Was für sie wichtiger als das Wie. Fontane definierte: Die Bühne "ist der Schauplatz für Gegensätze. Nur diese schaffen Orientierung, Klarheit. Nuancierungen sind der Stolz des Romans, im Drama sind sie der Ruin." Am stillsten wird es deshalb im Augsburger Theater, als Mio auf den Ritter Kato stösst. In dieser Szene geschieht auf den Brettern nichts. Nur Worte werden gewechselt. Doch in ihnen geht es um Leben und Tod, du oder ich, Fortleben des Bösen oder Sieg des Guten. - Merke: Text ist für junge Zuschauer zumutbar; und für erwachsene erst recht!

 

Die Deutlichkeit, welche Familienstücke verlangen, erlaubt es den Schauspielern, ihre Rollen mit vollem Saft darzustellen. Expressives Jaulen und Krächzen evoziert die Lust am Spiel, und die Lust am Spiel reisst alle mit, die Leute auf der Bühne wie die Leute im Saal. Reine Ausgelassenheit. Mal etwas anderes als das gewundene, verkopfte rhythmische Sprechen. Als Lockerungsübung wohltuend für Darsteller und Zuschauer.

 

Natürlich eignet sich der Stil nur für einfache Handlungen. Und wenn die Handlung zu einfach ist – wie in Astrid Lindgrens Märchen – beginnt sich der Kopf des Kritikers zu langweilen. In "Mio, mein Mio" erkennt er die immer wiederkehrenden Situationen und Motive, mit denen die Kinderbuchautoren des 20. Jahrhunderts ihre Sachen gestrickt haben. Diese Reflexion unterscheidet den Erwachsenen vom Kind.

 

Schon Pestalozzi, Freud, die Ammen und die Eltern haben festgestellt, dass das Kind (bei Berne: das "Child-I") Wiederholung der Lust verlangt. "Nochmals!", ruft es, "nochmals!", gemäss Nietzsches Wort: "Alle Lust will Ewigkeit". Der Erwachsene erfährt das noch bei Sex, Alkohol, Tabak und Schokolade. Auf der kognitiven Ebene (bei Berne: im "Adult-I") langweilt das Bekannte aber, und der Geist verlangt Neues. Darum entwickeln sich die Künste weiter und weiter, während in den Märchen nur das Kostüm wechselt.

 

Wenn die Vorstellung zu Ende ist, applaudieren die Kinder nicht - in Augsburg so wenig wie in Bern oder anderswo. Wenn die Stunde im Kindergarten oder in der Schule aus ist, rühren sie auch nicht die Hände. Und woher auch? Am Ende eines Films schaltet man ab oder zappt weiter.

 

Deshalb warten sie nun im Theatersaal das Klatschen der Eltern und Halbwüchsigen ergeben ab und freuen sich aufs Gehen. Doch halt! Da geht der Vorhang nochmals auf. Verwundert blicken die Kinder auf die Figuren der Handlung, die sich in einer Reihe aufgestellt haben und ins Publikum blicken. Diese Spielsituation kennen sie nicht, weder aus dem Film noch aus dem Fernsehen. Zuerst glauben sie, das Spiel werde weitergehen, doch dann bemerken sie, dass die Figuren bloss synchron den Rücken beugen. Das hat ihn noch niemand erklärt.

 

Schuld an der Irritation sind zwei Dinge: Erstens unterscheidet das Kind nicht zwischen Handlung und Wirklichkeit. Bei ihm fällt beides in eins. Darum interessiert es sich auch nur für die Figur, nicht für den Darsteller. Wenn nun noch zwei Unbekannte, der Regisseur und die Bühnenbildnerin, dazutreten und sich mitverbeugen (Joachim von Burchhard und Jeannine Simon), ist der Vorgang erst recht unverständlich. - Zweitens weiss das Kind nicht, dass die Verbeugung aufs Hoftheater zurückgeht, wo sich die Akteure für den Applaus der Adeligen bedankten, indem sie sich – Zweck jedes Bücklings - klein machten. Die Verbeugung ist also ein alter absolutistischer Zopf. Das erklärt, warum die Künstler der Comédie-Française den Beifall aufrecht entgegennehmen. Sie spielen für das Theater der Republik. Die deutsche Bühne aber hinkt in diesem Punkt noch der Gegenwart hintendrein.

Unterwegs mit dem besten Freund ... 

... im Reich des Ritters Kato. 

 
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