20. Jahrhundert - nicht spitzwegischer Opernkitsch. © Annette Boutellier.

 

 

 

La Bohème. Giacomo Puccini.

Oper.                  

Ivo Hentschel, Matthew Wild, Kathrin Frosch. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. November 2018.

 

 

In seiner Inszenierung der "Bohème" erkundet Matthew Wild die Grenze zwischen Kunst und Leben. Leben, das ist der Kampf ums tägliche Brot. Er führt vier junge Künstler in einem Pariser Dachstockatelier immer wieder an den Rand der Verzweiflung, der sie sich durch trotzige Scherze entreissen. Die Erwartung künftiger Anerkennung lässt sie durchhalten. "Die Hoffnung hilft uns leben", schrieb der 32jährige Goethe an Charlotte von Stein. Doch am Leben hält sie auch die Liebe, das Geschenk der ausgefüllten Gegenwart in der Begegnung mit einem anderen Wesen.

 

Mimi und Musetta heissen in der "Bohème" die Musen, die das Beste in den jungen Männern wachrufen. Und das Beste ist - in ihren Augen - die Auflösung aller Grenzen, mithin die Versöhnung von Kunst und Wirklichkeit in einem neuen Universum, das sie durch ihr Wirken stiften wollen. Damit wird für sie das Leben selbst zum "Werk". Die Rollen, die sie spielen, die Posen, die sie einnehmen, die Kostüme, die sie tragen, die Attitüden, die sie zur Schau stellen - sind Bestandteile einer grossen (Selbst-)Inszenierung, die sie als Revolution begreifen, um sich und die Welt und die herkömmliche Auffassung der Dinge auf eine neue Umlaufbahn zu schleudern.

 

Um diesen (Zeit-)Geist zu fassen, transponiert Matthew Wild die Geschichte der "Bohème" aus dem putzigen Elend des spitzwegischen Opernkitschs in den grossen Aufbruch der 1960er Jahre. Es ist die Zeit der Beatles und Andy Warhols, die Zeit von Pop Art und Minimal Music, Entdeckung des fernen Ostens und Drogenreisen.

 

Der Regisseur war damals noch nicht geboren. Der Aufbruch muss aber in seinen Augen phänomenal gewesen sein. Doch was ist aus ihm geworden? Versteinerung, kunsthistorisches Faktum, museale Aufstellung in weissen Räumen, kalt, überholt, vergangen - wie das lebendige Herz, vergrössert und aus seinem organischen Zusammenhang gerissen, zum blossen Kunstobjekt erstarrt ist (Bühne: Kathrin Frosch).

 

Das Gleiten vom Leben in den Tod, das Puccini am Schicksal der kleinen Näherin Mimi erzählt, nimmt Matthew Wild somit in ein System von klugen Brechungen auf, durch die er den Gegensatz von Kunst und Leben, Sein und Zeit auf neue, aufregende und beeindruckende Weise zur Darstellung bringt. Für die Selbstreferenzialität (ein Begriff, der damals erfunden wurde) verwendet er das Requisit einer Rollei-Kamera.

 

Wenn sich Rodolfo und Mimi vorstellen, blicken sie nicht einander in die Augen, sondern in die Linse. Und damit ist schon das ganze Durcheinander von Kunst und Leben erfasst: Wir müssen uns aufgeben, damit wir bestehen bleiben. So gestaltet sich konsequenterweise Mimis Sterben zum Selfie. Auf einem Sofa von Claes Oldenburg winkt die Todgeweihte neben Rodolfo in die Kamera. Kunst als Strohhalm im Meer der Vergänglichkeit. Tiefer hat noch niemand auf der Bühne über die "Bohème" und das Wesen der Oper nachgedacht.

 

Aus dieser Tiefe kommt auch die immense, wortlose Trauer, die die ganze Aufführung grundiert. Während die jungen Leute sich in Liebesarien verströmen, gleitet im Hintergrund eine müde, kranke, alte Gestalt im Rollstuhl vorbei: Es ist der greise Marcello. Am Tag, wo seine Retrospektive in einem Museum of Modern Art eröffnet wird, kehren seine Gedanken in die Entstehungszeit der Werke zurück und beschäftigen sich mit dem Problem des falschen Lebens.

 

Jetzt, wo alles erstarrt ist und zu Ende geht, öffnen sich im Künstler furchtbare Zweifel über seine Lebensbahn, ohne dass er noch die Kraft hat, das Geringste zu ändern. Und während von knisternder Schallplatte zur Feier des Anlasses Puccinis einziges Streichquartett, "Chrysanthemen", ertönt, kann der Gefeierte nur noch in ohnmächtigem Zorn das Chrysanthemen­bukett zu Boden werfen, das auf seinem Schoss ruht wie eine verfrühte Grabbeigabe. Und recht hat er; denn Chrysanthemen sind traditionelle Trauerblumen.

 

Vielleicht hätte Mimi ein anderes Leben durchlaufen, wenn sie ihm, Marcello, begegnet wäre statt dem weichen Rodolfo, aus dem es nichts gegeben hat. Doch Marcello begnügte sich mit der realistischen, lebenstüchtigen Musetta. Und sie blieb ihm, trotz aller Flatterhaftigkeit, treu bis zum Ende, und diese zeitenüberdauernde Verbundenheit ist auch etwas wert. Während Rodolfo und Mimi am Ende des ersten Aktes "Amor! Amor! Amor!" singen, beugt sich Musetta über das Gesicht des alten Mannes im Rollstuhl und wischt ihm mit einem Taschentuch den Speichelfaden vom Mund. Wer wagt da, zwischen Pflicht, Dankbarkeit und tätiger Liebe zu unterscheiden? So klug sind die Brechungen, mit denen Matthew Wild die Geschichte der "Bohème" erzählt.

 

Die Mehrdeutigkeit des Geschehens – jedes grosse Kunstwerk hat mehr als nur einen Sinn – gipfelt in der Sterbeszene. Da erhebt sich die tote Mimi vom Oldenburg-Sofa und reicht dem Alten die Hand: Komm, es ist Zeit, dass wir gehen und in einer anderen Welt zusammenkommen! Damit geht die Oper auf und zuende, indem sie den Tod als grosse Versöhnung und Auflösung der Lebensprobleme darstellt. Tiefer hat noch niemand auf der Bühne über die "Bohème" und das Wesen der Oper nachgedacht.

 

Die gebrochene Weise, mit der die Inszenierung die Handlung wiedergibt, nimmt Ivo Hentschel in seinem Dirigat auf. Die Szenen, in denen herumgetollt und herumgealbert wird, gestaltet er so robust, dass man Puccini vermisst und an Honegger denkt: Zwanzigstes Jahrhundert statt neunzehntes, wie es dem Regieansatz entspricht. Doch in den grossen, lyrischen Szenen ist etwas Neues zu hören. Schon bei der ersten Begegnung der Liebenden spielt das Orchester in einer anderen Dimension. Generalpause, verlangt die Partitur. "Mettere sordina." Das Tempo geht über von Allegretto zu Lento. Die Streicher hauchen ein vierfaches Piano, und von aussen hört man eine leise Stimme: "Scusi". Rodolfo: "Una donna!" Da klingt das Berner Symphonieorchester ganz jenseitig. Schon nur um dieser Erfahrung willen kann man von einer grossen Interpretation sprechen.

 

Und da ist Evgenia Grekova als Mimi. Seit sie in Bern ist, zeichnet sie sich durch eine Wahrheit des Spiels aus, die über den bei Sängern üblichen Rahmen hinausgeht. Man begreift, dass Marcello ein Leben lang nicht von ihr loskam, auch wenn sie in seinen Jugendtagen nur flüchtig an ihm vorüberzog. Bis zum letzten Hauch geht von ihr eine Seelenwärme aus, mit der sie sich von den andern Personen unterscheidet und mit der sie auch die Zuschauer erreicht. In ihrem warmen, gefüllten Sopran spricht sich ein kleines, bescheidenes Herz so ergreifend aus, dass wir die Sängerin vergessen und mit Mimi in Beziehung treten, als gehörte sie zu uns.

 

Das Ensemble, welches Operndirektor Xavier Zuber vor vier Jahren zusammengestellt hat, ist durch eine Vielfalt hochkarätiger Produktionen in der stimmlich und darstellerisch makellosen Wiedergabe von Menschen mittlerweile so geübt, dass die "Bohème" den Ruf des Berner Musiktheaters als Opernhaus ersten Ranges einmal mehr bestätigt.

 

Begegnung vor dem Auge der Erinnerung. 

Das Herz ist zum Kunstobjekt erstarrt. 

Brechung vom alten zum jungen Künstler. 

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