Ausgestellt im fensterlosen Raum. © Konrad Fersterer.

 

 

 

Die Möwe. Anton Tschechow.

Schauspiel.                  

Anne Lenk, Judith Oswald. Staatstheater Nürnberg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.

 

 

Am 18. Dezember haben wir die 94jährige Frau D. in die Demenzstation des Pflegeheims Elfenau überführen müssen. Sie hatte angefangen, nachts herumzugehen, und die Pflegerin hatte keine freie Minute mehr. Jetzt ist die Hochbetagte am Rand der Stadt aufbewahrt bis zu ihrem Tod. Wer sie besuchen will, muss sich am Brunnadernrain 8 beim Gittertor anmelden, und dann noch einmal vor der Haustür. Der Ort ist gut gesichert. Frau D. sitzt mit anderen verwirrten Menschen in einem grossen, fensterlosen Raum. Sie sind den Wänden nach aufgestellt. Einzelne haben repetitive Bewegungen. Frau D. versucht, mit heftigen Gebärden einen unsichtbaren Fleck auf ihrem Rock wegzureiben. Auffällig ist, dass in diesem Gruppenraum abgewrackter Existenzen – wie damals, als der Feuerregen über Ninive hinunterging – viele ihre eigentümliche Grundpose (die Psychologen nennen sie "Persönlichkeitsfassade") beibehalten haben.

 

Eine ähnliche Situation hat nun Anne Lenk zusammen mit der Bühnenbildnerin Judith Oswald auf die Bühne des Nürnberger Schauspiels gebracht. Zehn Menschen sind in einem fensterlosen Kasten aus Steinwolle den Wänden entlang verteilt, jeder in seiner eigentümlichen Grundpose. Einzelne haben repetitive Bewegungen. Wenn sie sich äussern, werden ihre Gebärden heftig, und die Stimme mutiert zu unverständlichem Geschrei. Nachgespielt jedoch wird nicht "Alzheim", die erste Alzheimeroper der Musikgeschichte (Uraufführung 2017 bei Konzert Theater Bern), und auch nicht Lars Noréns Demenzstück "Poussière" (Uraufführung 2018 an der Comedie-Française, Paris), sondern Anton Tschechows Schauspiel "Die Möwe" (Uraufführung 1896 am Aleksandrinski-Theater, Sankt Petersburg). Eine fragwürdige Kombination von Werk und Inszenierungsstil.

 

Geht es im Stück des grossen Menschendarstellers Tschechow um die subtile Erkundung des Verdorrenden und Absterbenden im russischen Gesellschaftskörper, so macht die Nürnberger Aufführung daraus die rabiate Denunziation selbstbezogener Lebensunfähigkeit, und wir blicken ins hellerleuchtete Kabinett einer Tierpräparatorin, sprich: Mainstream­regisseurin. Die ausgestopften Vögel (sprich: Tschechw-Figuren) wirken schaurig, abstossend, befremdlich. Auf diese Weise verhindert die Inszenierung jeden Ansatz von Mitleid, Einfühlung, Verständnis.

 

Um Verfremdung und Distanz herzustellen, entscheidet sich Anne Lenk für jenen Theaterstil, den Peter Zadek und Hansgünther Heyme zehn Jahre vor Geburt der Regisseurin formuliert haben: übertrieben, hämisch, karikaturesk. Damit sperrt sich die Aufführung nicht nur gegen Tschechows Menschendarstellung, sondern auch gegen die Thematik der "Möwe". In ihr geht es, unter anderem, um die Frage, ob Theaterkunst in der Lage sei, das Leben zu fassen. Sicher nicht, meinen das Stück und sein Autor, wenn das Spiel dafür auf abgestandene, konventionelle Formelemente zurückgreift. Nun aber bringt die Aufführung eben solche abgestandenen, konventionellen Formelemente ins Nürnberger Schauspielhaus zurück, und die Frage ist: Kann sich eine Bühne reaktionärer, humorloser und ironiefreier gebärden?

 

Dazu gehört das Unterlaufen der Erwartungshaltungen. Nina (die "Möwe") ist nicht mehr eine blutjunge Provinzunschuld, die vom Theater zu schwärmen beginnt und sich fragt, ob ihr Talent ausreicht, in Moskau Schauspielerin zu werden; sondern die Rolle wird besetzt mit einer eher reifen Darstellerin von bemerkenswert anorektischer Figur (Pauline Kästner), deren eklatante S-Schwäche jeder Verwendung auf der Bühne entgegensteht. Mit dem Part des Sohnes, der sich im Sehnen zerreisst, wird ein Wesen von mitleiderregender Obesität betraut (Cem Lukas Yeginer). Und den 35jährigen Modedichter Trigorin, Schwarm der weiblichen Lesewelt, spielt ein Secondo von kaffeebrauner Hautfarbe mit deutlichem Bauchansatz (Amadeus Köhli). Der Rest ist einfallsloses Klischee.

 

In Nürnberg nimmt die Aufführung Tschechows "Möwe" alles weg, was mit Tschechow zu tun hat (mit Aufnahme des Texts, übersetzt von Thomas Brasch), und spielt den Rest in der Art der seligen Grossväter. Provokation, Denkanstoss, neuer Blick - das war gestern. Heute bleiben sinnleere Konzeptarbeit und nacktes Elend.

Es gibt kein Entkommen. 

Nur Pathos.

Und grosse Gebärde. 

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