Die Geschichte beginnt im Licht einer Neonröhre. © Joel Schweizer.

 

 

 

Animal Farm. George Orwell/Peter Hall.

Schauspiel.                  

Max Merker, Alessandro Pergola. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2018.

 

 

Das Problem bei der "Farm der Tiere" ist der veraltete Plot: George Orwells Tierfabel zeigt, wie Stalin in der Sowjetunion die humanen Wurzeln des Kommunismus pervertiert und die Macht an sich reisst. Ein geschichtlich interessanter Vorgang, gewiss. Aber was geht uns das Geschehen heute an? Und dann noch von der Bühne herab, dramatisiert von Peter Hall? Die alte Geschichte ist nicht aktueller als das Drama von Maria Stuart. Aber Schiller war der bessere Dichter. Wozu also "die Farm der Tiere" heute noch bringen?

 

Vor dieser Frage stand bereits vor zwei Jahren Oliver Wronka in Salzburg, und er entschied sich, mit der alten Fabel die heutige Massentier­haltung zu denunzieren. Auf der Bühne führte das Video abscheuliche Schlachtszenen vor, und die Soundanlage lieferte dazu harten Rock. Doch bei allem Ernst des Anliegens ging die Aufführung daneben.

 

Jetzt inszeniert Max Merker unter Verzicht auf Aktualisierung in Solothurn dasselbe Stück, und das Ganze geht auf. Ja mehr als das: Je weiter die Aufführung fortschreitet, desto stärker schnürt sie einem die Gurgel zu. Am Ende sind wir in der Gegenwart angelangt und verlassen benommen den Theatersaal.

 

Wie ist das möglich? Am Sujet kann's nicht liegen. Beide Regisseure inszenieren dieselbe Vorlage. Also ist die Machart entscheidend. Und da zeigt sich: Aktualisierung ist nicht zwingend ein Plus. Denn sie ist, wie Schiller gesagt hätte, noch immer viel zu stofflich. Schauen wir auf Claude Monets Bilder: Die würden auch nicht an Wert und Aussage zunehmen, wenn sie Automobile statt Kutschen abbilden würden. Also vergessen wir das Sujet. Der künstlerische Reiz liegt in der Verarbeitung, im impressionistischen Stil.

 

Doch reicht diese Feststellung zur Erklärung noch nicht aus. Impressionistisch gemalt hat damals die ganze Generation von Paris bis Nizza und von Bordeaux bis Lausanne. Monet aber und ein paar andere ragen bis heute aus der Vielzahl heraus. Und wenn man nach dem Unterschied fragt, stösst man auf etwas Unfassbares, das mit Sensibilität zu tun hat. Die Könner machen einfach immer das Richtige, an jeder Stelle, in jedem Moment. - Und durch ihre durchgehende Richtigkeit unterscheidet sich jetzt auch Max Merkers Inszenierung von der seines Salzburger Kollegen.

 

Ein zuverlässiger Indikator ist das Licht. Die Beleuchtung von Alessandro Pergola ist immer - man kann es nicht anders sagen - genau richtig. Die Neonröhre im dunklen Stall hat genau das richtige Grau. Und das Varietélicht in den belebten Szenen das richtige Rot. Was dabei zutage tritt, ist ein richtiges Gespür, ein feines Auge und ein gutes Händchen. Diese Qualitäten bringt auch Max Merker mit. Sie führen zu einem Theaterabend, der aus dem Durchschnitt herausragt. Mehr als Gespür braucht es nicht. Den Rest macht das Stück.

 

Die Solothurner Schauspieler sind vielleicht nicht besser als die von Salzburg. Aber sie sind besser geführt. Mit Fingerspitzengefühl. Auch für die Besetzung. Darum sind alle an ihrem Platz überzeugend, ohne dass die Regie zu schweren Mitteln greifen müsste. Der feine Strich ist ohnehin der elegantere. Und durch ihn ist die Ensembleleistung geprägt.

 

Einzelne erkennt man wieder, und sie sind gut. Etwa Atina Tabé, Tom Kramer und Günter Baumann. Andere sind neu und nicht weniger gut: Alvise Lindenberger, Tatjana Sebben, Anne Sauvageot und Davide Romeo. Auf der Besetzungsliste steht am Ende: "weitere Schafe, Hühner: Ensemble". Und in diesem Wort liegt ein weiteres Geheimnis: Max Merker hat ein Ensemble zustandegebracht. Überraschend dann - immer noch beim Lesen des Programmzettels - der Name von Matthias Schoch als Napoleon. Er spielt in der "Animal Farm" das wirkliche Schwein. Dass man ihn in der Aufführung nicht wiedererkennt, liegt daran, dass er so überzeugend mit seinem Part verschmilzt.

 

Max Merker schiebt das Stück behutsam nach vorn. Der Begriff des "Animalismus", auf den die Tiere eingeschworen werden, wird im Laufe der Handlung ersetzt durch den Begriff der "Community". Und statt von "Unterschicht" wird am Schluss von "Konsumenten" gesprochen. Das sind aktualisierende Eingriffe, gewiss. Aber, wie schon Paracelsus sagte, kommt es auf die Dosis an. Und auf das Gespür für die richtige Setzung. In der "Animal Farm" vollzieht sich die Aktualisierung als Prozess. Auf diese Weise werden die Gegenwartszitate zu Bestandteilen der Handlung, und mit ihnen rückt uns die Inszenierung das Stück auf die Pelle.

 

Plötzlich beleuchtet der Abend nicht mehr die Usurpierung der Volksmacht durch Stalin, sondern die Irreführung der User durch Fake News. Am Ende der Geschichte sind die Anhänger betrogen: "Ich habe euch alle verkauft", erklärt Napoleon, als er am Ziel ist. Das Volk war zu lange gutgläubig. Jetzt ist Widerstand nicht mehr möglich, der richtige Moment wurde verpasst. Das grosse Schlachten beginnt.

 

Als Katharina Rupp, die Schauspieldirektorin von Biel-Solothurn, vor zwei Jahren das Stück ansetzte, konnte sie noch nicht wissen, dass Donald Trump in der Premierenwoche das Ende der Rüstungsbegrenzung ankündigen würde. Bekannt war erst, dass der amerikanische Präsident den russischen als seinen besten Freund betrachtete, mit dem er sich besser zu verstehen glaubte als mit der sperrigen Merkel.

 

Damals flirrten Handschlag und Bruderkuss, Aufnahme von Handelsbeziehungen und männerbündlerische Kameradschaft durch die Medien (wie ein Jahr später mit Kim). Die "Animal Farm" bildet diese Szene des Polittheaters ab. Aber die Umarmung der Führer degeneriert alsbald zum Ringen. Jeder versucht, den anderen zu Boden zu drücken und aus dem Spiel zu werfen. Wenn der Vorhang fällt, sind wir in der Gegenwart angelangt. Das Spiel ist aus. Wir verlassen benommen den Theatersaal. Jetzt beginnt die Wirklichkeit der Geschichte.

 

Bald wird die Verfassung umgebogen. © Joel Schweizer.

Am Schluss werden alle verkauft. © Konstantin Nazlamov.

 
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