Bleierne Einförmigkeit: Die Kamera ist immer dabei. © Birgit Hupfeld.

 

 

 

Der Mann ohne Eigenschaften. Sebastian Klink/Robert Musil.

Schauspiel.                  

Sebastian Klink, Gregor Sturm, Thomas Bernhard, Janosch Röthlisberger, Gabriele Suremann. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. September 2018.

 

 

Der rote Faden ist schwarz gekleidet und heisst Gabriele Suremann. Die bescheidene, lebenserfahrene Frau steht den ganzen Abend auf der Bühne. Also drei Stunden und fünfzig Minuten. Sie trägt eine Lesebrille. Wenn sie den Kopf senkt, blickt sie über den Rand auf die Szene und durch die Gläser hinunter ins grosse schwarze Buch, das sie den ganzen Abend mit sich trägt. Also drei Stunden und fünfzig Minuten.

 

Gabriele Suremann ist Souffleuse. Lautlos bewegt sie sich über die Bühne zu den Stellen hin, an denen bald gesprochen werden wird. Sie steht dort bereit für den Fall, dass sie gebraucht wird. Denn da ist Text. Viel Text. Auch wenn natürlich das aller-, allermeiste von Musils unvollendetem Roman gestrichen werden musste. Die Frisé-Ausgabe hat 1810 Seiten. Dazu kommen noch 220 Seiten Studienblätter und Notizen, frühe Entwürfe und vorausveröffentlichte frühe Kapitelentwürfe in Vier-Punkt-Schrift. Für seine "Fassung" hat Regisseur Sebastian Klink nur etwa zwei Prozent verarbeiten können. Der Rest bleibt stumm im Buch, genauer: In den fünf Romanbänden der neunbändigen Ausgabe von Robert Musils gesammelten Werken bei Rowohlt.

 

Aus diesem Ozean fischt also Sebastian Klink einzelne schwebende Teilchen. Bis zur Pause wird eingeblendet, aus welchen Kapiteln welchen Teils die Sätze herkommen. Man sieht dann, dass der Regisseur nicht chronologisch verfährt, sondern, nun ja, intuitiv. Mal dies, mal das. Von hier und dort. Manchmal wird dies und das von hier und dort auch in der gleichen Szene serviert. Ohne Hinweis auf die Provenienz der Stellen würde man's nicht merken, denn es geht der Inszenierung nicht um Geschichte, sondern um Themen: Der Kapitalismus. Die Macht. Das Militär. Die Zivilisation. Die Kunst. Die Wissenschaft. Die Sexualität. Die Liebe. Das Verbrechen. Der Wahnsinn. Die Normalität. Das Leben heute. So kommt mal das eine zu Wort, mal das andere, von hier und von dort.

 

Man merkt schon, dass uns Musils Worte noch viel zu sagen hätten (und man nimmt sich vor, den Roman ein drittes Mal zu lesen). Man merkt aber auch schon, dass es so nicht geht, wie es sich Sebastian Klink vorstellt. Er bekennt sich, das ist naheliegend, zum Fragment. Und er verzichtet, notgedrungen, auf die Kontextualisierung der Sätze, die der Epiker vornimmt. Das ist fatal. Im Original nämlich spiegeln, beleuchten, kritisieren und vervollständigen sich die Worte gegenseitig. Eine kompositorische Riesenaufgabe. Der diplomierte Maschinen­ingenieur Robert Musil ist darüber gestorben, ohne sie vollenden zu können. Nun wird in Bern der ehrfurchtgebie­tende Torso in Elementarteilchen zerschreddert. Ein Rück­schritt. Kein Fortschritt.

 

Neben Gabriele Suremann bewegen sich zwei weitere dienstbare Geister unentwegt auf der Bühne: Thomas Bernhard (Video) und Janosch Röthlisberger (Tonabnahme). Sie fangen die Worte der Schauspieler ein, die Schweissperlen, die ihnen übers Gesicht rinnen, die Falten, die Lidstriche, die Hautunreinheiten, und werfen sie auf drei nebeneinanderstehende Leinwände (Bühnenbild und Kostüme: Gregor Sturm). Die Bewegungen der Ton- und Bildmenschen sind inszeniert wie die Gänge der Souffleuse. Sie sind abgestimmt auf das Verhalten der Schauspieler, und das Verhalten der Schauspieler ist abgestimmt auf die Position der Kamera. Mal wird durch einen angewinkelten Ellbogen gefilmt, mal an zwei Köpfen vorbei. Weil das aber drei Stunden und fünfzig Minuten so geht und weitergeht, macht sich bald einmal bleierne Einförmigkeit breit. Es nützt da nichts, dass von Franken statt von Kronen geredet wird und dass das Video, um "Bezug" herzustellen, die Aare abbildet statt die Donau, das "Les Amis" statt das "Landtmann", die Münsterterrasse statt den Volksgarten und das Lorraine- statt das Krapfenwaldlbad. Das ist leeres Herbei­zitieren, und man könnte, nein: man sollte es weglassen.

 

Ob man Video und Tonverstärkung einsetzt oder nicht, ist ein künstlerischer Entscheid, und der muss vor künstlerischen Kriterien standhalten: Bringt's was? Dann machen! Bringt's nichts? Dann Finger weg! In Bern bringt's nichts. Und warum? Weil Sebastian Klink mit den Gegebenheiten nicht zu spielen versteht. Da ist eine Souffleuse. Da ist ein Kameramann. Da ist ein Tonabnehmer. Da ist eine Bühne. Da sind Leinwände. Da ist ein Stück. Da sind Schauspieler. Jetzt müsste man all diese Faktoren so miteinander in Beziehung bringen, dass sie sich im Dienst an einem überragenden künstlerischen Konzept gegenseitig stützen und steigern gemäss der alten Wahrheit, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Beim "Mann ohne Eigenschaften" geht diese Rechnung nicht auf.

 

Wie man's macht, haben in der vergangenen Spielzeit verschiedene Leute gezeigt: Milo Rau an der Schaubühne Berlin, Anne Théron im Théâtre national de la Colline, Christiane Jahaty an der Comédie-Française, Matthias Hartmann am Volkstheater Wien, Peter Wittenberg am Staatstheater Nürnberg, Christoph Diem am Staatstheater Braunschweig und am Stadttheater Bern Matthew Wild in "Don Giovanni". Verglichen mit ihnen befindet sich das Video in den Vidmarhallen noch im Pfahlbauerzeitalter.

 

Als Mann ohne Eigenschaften geht Gabriel Schneider hervor­ragend durch. Man glaubt ihm die Intelligenz. Man glaubt ihm die Wachheit. Man glaubt ihm das Grüblerische, kurz, man glaubt ihm die Gestalt, welche die psychologische Typenlehre sechzig Jahre nach Musil in die Worte gefasst hat: "Die Theorieminister sind nachdenkliche Beobachter, die ihre Umgebung aus einer kritischen Distanz betrachten. Sie wollen lernen und verstehen – ihr ganzes Leben lang. Theorieminister ruhen nicht eher, als bis sich alle Einzelteile zu einem vollständigen, in sich geschlossenen Bild zusammenfügen. Wenn es dann so weit ist, erscheint ihnen ihre Erkenntnis so sonnenklar, dass sie es kaum für wert erachten, sie anderen mitzuteilen. Weil sie introvertiert sind, bleiben ihrer Umgebung viele ihrer Gedankengänge und Überlegungen verborgen. – Theorieminister sind durch und durch rationale Typen. Ihnen steht die Logik auf die Stirn geschrieben. Sie werfen einen analytischen Blick auf ihre Umwelt: Sie interessieren sich für Prinzipen und Grundsätze, versuchen die Logik eines Systems zu durchschauen und entwerfen Theorien darüber, nach welchen Gesetzen die Welt um sie herum wohl funktioniert. Weil sie Intuitivwahrnehmer sind, verarbeiten sie eingehende Informationen so, dass sich ihnen übergeordnete Zusammenhänge und logische Muster erschliessen. Sie sind gegenüber Neuem und Originellem aufgeschlossen und haben ein gutes Gespür für Zukunftsträchtiges."

 

Wie schon die Beschreibung von Stefanie Stahl und Melanie Alt zeigt, darf man den Theorieminister nicht allein lassen, sonst kommt nichts zustande. Für die Bühne gilt das erst recht. Man müsste das grosse Neutron, welches der Mann ohne Eigenschaften abgibt, in ein System setzen, in dem er kontrastiert mit verschiedenen geladenen Elektronen und Protonen, welche mit ihrem Drall das Ganze in Bewegung halten. Doch nur zwei verstehen es, dem Mann ohne Eigenschaften als pralle, greifbare Figuren gegenüberzutreten: Chantal Le Moign als Diotima und Stéphane Maeder als General Stumm von Bordwehr. Maeders Darstellung ist spannender, weil er gleich zum Titelhelden in Beziehung tritt, während das Le Moign verwehrt bleibt.

 

Wenn Gabriel Schneider mit Florentine Krafft, Marie Poppal und Daniela Luise Schneider zusammen spielt, versteht man ihn immer, die Partnerinnen aber, trotz Verstärkung, nur zeitweise. Und wenn sie wispert, taucht Florentine Krafft gar in die Unhörbarkeit ab. – Die jungen und jüngeren Männer (David Brückner, Sebastian Schulze, Nico Delpy, David Berger und Jonathan Loosli) sind loyale Diener ihres Herrn, wobei Bergers Loyalität so weit geht, dass er sich wieder dazu hergeben lässt, seinen Pimmel zu zeigen. Man versteht nicht, warum er nicht schon längst bei den Proben aufbegehrt hat: "Jetzt soll's mal ein anderer machen. Nicht immer ich!"

 

Der Verfasser des "Manns ohne Eigenschaften" hat auch als Kritiker gearbeitet. Zwischen 1912 und 1930 besprach er Theateraufführungen und Bücher, unkorrumpierbar, hart und exakt. Über die Berner Produktion hätte er wohl aus früheren Besprechungen die Sätze übernommen: "Das Ganze ist ein kinematisches Spiel ohne Masse, ein Operieren mit fingierten Grössen. Die symbolische Zwischenmusik vermag die Lücken nicht auszufüllen, denn sie ist zu unkontrollierbar und gefühlhaft irrational. [Das Video und die Musikeinspielungen] bleiben Gewürze; das Hauptgericht ist tragisch gebacken. Theatrodämonisch; gerade an den Stellen, wo das Schicksal eines Menschen geknetet wird, sitzt nicht ein Korn Ironie."

 

Die Bewegungen der Ton- und Bildmenschen ...

... sind abgestimmt auf die Schauspieler ... 

... und die wieder auf die Kamera.

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