Die dritte Spielzeit ist die letzte. © William Beaucardet.

 

 

 

Coriolan-Ouvertüre, op. 62. Ludwig van Beethoven. / 2. Violinkonzert. Jörg Widmann. / Sinfonie Nr. 6, op. 62, (Pastorale). / Ludwig van Beethoven.

Konzertabend.                  

Daniel Harding, Carolin Widmann. Orchestre de Paris in der Philharmonie de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2018.

 

 

Die dritte Spielzeit ist schon die letzte. Am Ende der Saison verlässt Chefdirigent Daniel Harding zum Bedauern der Musiker das Orchestre de Paris. Das Fliegen interessiert ihn mehr, und vor allem der Flugschein zum Steuern einer Boeing. Um die Stunden dafür freizubekommen, muss der 42jährige seinen Einsatz am Pult der Philharmonie de Paris reduzieren. Das Publikum ist ihm nicht böse. Seinen Auftritt begrüsst es mit warmem Applaus.

 

"Coriolan" zuerst. In Abänderung des publizierten Programms wurde die Ouvertüre in letzter Minute eingeschoben. Zu recht. In diesem achtminütigen Kondensat der Shakespeare-Tragödie gibt Beethoven sein Bestes. Die Wucht der Eingangstakte. Dann, am Ende des Motivs, der Paukenschlag. In der Philharmonie mit der Präzision eines Computersignals. Unheimlich. Dann das zweite, weiche Thema (Ansermet nannte es "weiblich"). Die Interpretation ist mit Leidenschaft gefüllt. Musik, die Sprache ohne Worte - man erlebt's in dieser Abfolge wechselnder Gefühle.

 

Dann die europäische Erstaufführung: Jörg Widmanns zweites Violinkonzert. Seiner Schwester gewidmet. Carolin Widmann spielt es auch. Anfangs unhörbar. Das liegt nicht nur an den dicken Hustern, die der Hall der Philharmonie gleich deutlich wahrnehmbar macht wie den Schlag eines Triangels, sondern es liegt auch an der Komposition. Sie beginnt in der Stille. Carolin Widmann bewegt Bogen und Finger – und man hört nichts. Dann kommen Laute aus dem Instrument, die man zur Zeit Beethovens nicht als Musik bezeichnet hätte: Dissonante Flageolettöne. Kratzer. Gleitende Noten, die ans Stimmen der Saiten erinnern. Dann wird mit umgedrehtem Bogen aufs Holz geschlagen. Kein Zweifel: Da wird die Welt der Klänge erkundet und neu zum Ausdruck gebracht. Das Orchester tritt dazu und schickt seine Peiltöne in alle Richtungen. "Una ricerca" heisst der erste Satz. Doch bei aller Kakophonie: Immer ist da der Schlag; immer bewegt sich der musikalische Gedanke in organischen Formen. Auf dieser Basis gleitet der zweite Satz, "Romanze", in die Schönheit der Tonalität. Britten, Bernstein, Mahler ziehen vorbei wie unterschiedliche Galaxien des musikalischen Universums. Im dritten Satz, "Mobile", kommt das Ganze in beschleunigte, vor allem rhythmisch geprägte Fahrt.

 

Nach diesem reichen, komplexen Werk kann die "Pastorale" ihren Bann nicht mehr entfalten. Bezeichnenderweise bleiben die grossen Ausbrüche stumpf (das Gewitter etwa im dritten Satz). Faszinierender sind die Übergänge. Und, noch faszinierender, die Stellen, wo die Komposition an Ort tritt und die Minimal Music vorwegnimmt.

 

Mit 42 Jahren ist Harding schon eine Grösse. Und das heisst: Er ist umstritten. Die einen sagen, er sei genial. Die andern finden: manchmal genial, manchmal platt. Die dritten behaupten, sie hätten sich bei ihm noch immer gelangweilt. Die beiden ersten Meinungen werden sich an diesem Konzertabend mit Beethoven und Widmann bestätigt finden.

Mit 42 Jahren schon eine Grösse. 

 
 
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