Die Legende eines Lebens löst sich in nichts auf. © J. Stey.

 

 

 

Legende eines Lebens (La Légende d'une vie). Stefan Zweig.

Schauspiel.                  

Christophe Lidon. Théâtre Montparnasse, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2018.

 

 

1919 brachte der Insel-Verlag das Stück heraus. Heute, 99 Jahre später, kommt es, nach Auskunft des Théâtre Montparnasse, zum ersten Mal auf eine europäische Bühne. In Paris. Auf Französisch. Für den deutschen Sprachraum aber bleibt Stefan Zweigs "Legende eines Lebens" weiterhin, wie man so sagt, "gestorben". Und das, wenn nicht in alle Ewigkeit, so doch mindestens auf weitere 99 Jahre hinaus. Dann werden wir sehen.

 

Die Lage des Stücks ist also nicht bequem. Verantwortlich dafür sind zwei Gründe: Einerseits seine Thematik, anderseits seine Machart. Die "Legende eines Lebens" stellt einen Dichter in den Mittelpunkt. Künstlerdramen waren im Fin de siècle beliebt. In "Michael Kramer" von Gerhart Hauptmann kam der Typ 1900 auf tragische Weise zur Darstellung; im "Konzert" von Hermann Bahr 1909 auf komödiantische. 1919, als Stefan Zweigs Stück erschien, war die Wiese längst gemäht. Und die Menschen hatten andere Sorgen, als sich mit der Rolle des Genies in der Welt zu befassen. Der Vater-Sohn-Konflikt beschäftigte jetzt das deutsche Drama. Diese Frage behandelt die "Legende" zwar auch, aber in der falschen Machart. Jetzt war Expressionismus Trumpf. Stefan Zweig aber behandelte das Thema noch im Kleid des realistischen Kammerspiels. Mit dieser zweifachen Verspätung – inhaltlich, formal – blieb das Schauspiel bis heute im Abseits liegen.

 

Jetzt aber macht es das Entzücken des Pariser Schauspiel­publikums. Der Ausgehkalender des "Figaro" gibt ihm die maximale Punktzahl: "une interprétation qui force l'admiration et qui bouleverse". Und wieder sind zwei Gründe für diese Situation verantwortlich: Die Entdeckung von Stefan Zweig durchs französische Feuilleton einerseits, die packende Darstellung des Théâtre Montparnasse anderseits. Der Film half mit: "The Grand Budapest Hotel" 2014, "Stefan Zweig, histoire d'un Européen" 2015, "Vor der Morgenröte" 2016. Wenn heute der Name "Stéphane Sweig" fällt, horchen die französischen Kritiker auf. Es gibt da etwas zu entdecken, das höchst modisch ist: "La Vienne du fin de siècle".

 

Der Vater-Sohn-Konflikt und die Künstlerproblematik bieten aufregende Einsichten in vergangene Problemlagen. Und die handwerklich geschickte Verarbeitung Zweigs hält dem unvorein­genommenen Blick des 21. Jahrhunderts stand. Fünf Personen stehen drei Akte hindurch auf der Bühne. Vier von ihnen sind am Ende nicht mehr dort, wo sie am Anfang waren. Dieses Mass an dynamischer Figurenzeichnung ist bemerkenswert. Zumal wenn zwei Künstlerinnen exzeptionellen Rangs daran beteiligt sind wie jetzt in der Produktion des Théâtre Montparnasse. Die Rolle der Mutter und Künstlerwitwe wird gegeben von Natalie Dessay. Die 53jährige Koloratursopranistin sang an der Met, an der Scala, an der Wiener Staatsoper. Nun beginnt sie eine zweite Karriere als Schauspielerin. Als Mutter durchläuft Natalie Dessay ein packendes Schicksal vom Stolz über die Selbstverleugnung bis zur Vernichtung, und dabei führt ihr Entwicklungsgang von der Lüge zum Geständnis. Die Legende eines Lebens löst sich auf.

 

Noch eindrücklicher ist Macha Méril als ehemalige Geliebte des Verstorbenen. Die Erklärung findet sich in Wikipedia: Tochter eines exilierten russischen Fürsten. Geboren in Marokko. Drei Jahre bei Lee Strasberg am Actors Studio New York, dann Rollen in Hollywood und bei Jean-Luc Godard. Eigene Filmproduktions­gesellschaft. Romanautorin. 19 Jahre verheiratet mit dem italienischen Produzenten und Regisseur Gian Vittorio Baldi. - Dieser Hintergrund füllt nun das Spiel der 78jährigen mit der Kraft gelebten Lebens.

 

Die altertümliche Inszenierung von Christophe Lidon erweist sich als ideales Gefäss für ein Stück, das 1919 herauskam und 1909 spielt: Das Spielen mit flatternden Händen gehört noch zur Stummfilmzeit, das Vibrato zum Ton des damaligen Théâtre français. Machart und Thematik sind also historisch. Am Tag jedoch, wo das deutschsprachige Theater die historische Dimension wiederentdeckt, wird die "Legende eines Lebens" auch bei uns eine Chance haben. In 99 Jahren. Wir werden sehen.

Im Kleid des realistischen Kammerspiels. 

Über allen: Der grosse Verstorbene. 

 
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