Die inneren Bilder auf die Leinwand bringen. © Sabine Burger.

 

 

 

Mitridate, Re di Ponto. Wolfgang Amadeus Mozart.

Oper.                  

Predrag Gosta, Francesco Bellotto, Diego Méndez-Casariego, Louis Désiré, Samuele D'Amico. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. April 2018.

 

 

"Mitridate" zur Aufführung zu bringen, ist nicht ein Wagnis (dem steht der Name Mozart entgegen), sondern ein Problem. Die Frage ist: Wie bereiten wir den alten Schinken schmackhaft zu? Die Exposition ist ja knochentrocken. Der erste Satz ruft eine Figur auf die Szene: "Vieni, Signor", und beim zweiten Satz hüllt bereits der Staub einer rettungslos veralteten Rhetorik die ganze Bühne ein. Fünf Zeilen braucht der Librettist Vittorio Cigna-Santi, bis er zum Punkt kommt, und da kommt schon die Übertitelungsanlage ins Hecheln:

 

Più che le mie parole l'omaggio delle schiere,

Del popolo il concorso,

E la dipinta sul volto di ciascun gioia sincera

Abbastanza ti spiega in questo giorno

Quanto enulti Ninfea ne tuo ritorno.

 

(Frei nach dem Libretto übersetzt heisst das: "Die Ehrerbietungen der zahlreich herbeigeeilten Massen und das Entzücken, das sich auf allen Gesichtern spiegelt, sagen dir mehr als meine eigenen Worte, welche Freude Ninfea über deine Rückkehr empfindet.")

 

An der Premiere muss die Übertitelung, um dem Lauf des Dramas folgen zu können, einzelne Sätze und Satzteile wegklicken, weil sie der Geschwindigkeit der Musik nicht nachmag.

 

Und wie überfordert sind erst die Augen und das Auffassungs­vermögen der Zuschauer! Im ersten Rezitativ geht es bereits um Ninfea und Farnace und la bella Greca und den Gran Mitridate und um Roma und Arbate und in der Folge auch um Vater und Brüder und Mutter und Geliebte und Königin und Verlobte und Rivalen und Feinde und Griechen und Römer und Parther und Asiaten – und das alles in einer derart verknäuelten Syntax, dass die Übertitelung in einer knappen Sekunde zuweilen drei Zeilen aufscheinen lassen muss, die in antiquiertem, barockem Deutsch Kunde geben von komplexen geschichtlichen Vorgängen und familiären Verwicklungen.

 

Aber so ging es eben zur Zeit, wo "Mitridate" entstand, auf dem Operntheater zu, und der Urheber der Sünde heisst Racine, von dem auch das Drama stammt, das der 14jährige Mozart fürs herzogliche Theater von Mailand vertonte. "Die verzweifelten Seelen und Herzen, ihre langen Wortwechsel und Selbstanalysen machen es schwer, Racines Dramen auf dem Theater zu folgen." Das gesteht Jacques Barzun in seinem grossen kulturgeschicht­lichen Überblick "From Dawn to Decadence". Und er fährt fort: "Der unvorbereitete Hörer versteht zwar den groben Sinn der Handlung, aber die Gedankenwendungen sind zu fein, um bei der Geschwindigkeit erfasst werden zu können, mit der sie vorgebracht werden. Ausserdem ist unser heutiger Satzbau vergleichsweise kindertümlich." - Gleich verhält es sich nun bei Mozarts erster Oper, uraufgeführt am 26. Dezember 1770 im Teatro Regio Ducale di Milano.

 

Schinken also. Historienschinken gar. Bekennen wir uns dazu, sagt Theater Orchester Biel Solothurn, und es wählt damit einen Ansatz, der es erlaubt, das Werk aus Lächerlichkeit und unfreiwilliger Komik wegzubewegen, es mit subtil eingesetzten handwerklichen Interventionen zu beleben und im dritten Akt gar jene erschütternden Wirkungen hervorzurufen, um derentwillen die Oper einst gegeben wurde und die sie heute in Biel-Solothurn wieder erreicht.

 

Der Kunstgriff liegt also darin, das Historiengemälde als Histo­rien­gemälde zu bringen. Auf dem Hintergrund der Szene steht ein breiter, schwerer, goldener Rahmen. Vor ihm bewegt sich während der Ouvertüre ein Maler in weissem Kittel. Er ringt mit seinen Visionen, das heisst, er versucht, seine inneren Bilder auf die Leinwand zu bringen. Der Weg, den er dazu wählt, führt über Verinnerlichung und Nachempfindung zur Identifikation. So wird aus dem Sujet unversehens ein Subjekt, und der Maler, der Mitridate zur Darstellung bringen wollte, wird in der Folge zum Darsteller von Mitridate.

 

Damit interagieren auf der Bühne vier verschiedene Zeitebenen: (1) Die griechisch-römische Antike, in der das Drama angesiedelt ist, (2) die barocke Ästhetik der italienischen Opera seria, (3) die Epoche des Historismus um 1890, in der die grossen geschichtlichen Gemälde die Ausstellungen und Salons eroberten, und (4) die Jetztzeit, in der die Völker mit Grauen wahrnehmen, dass ihr Schicksal und ihr Frieden und ihre Zukunft in den Händen einiger weniger Akteure liegen wie Orbán, Netanjahu, Assad, Trump und Putin.

 

So wird der alte Schinken, je länger seine Aufführung dauert, beklemmend aktuell. Und die Utopie, mit der die Oper zuende geht: Abtreten der alten, verbrecherischen Generation, Übergabe der Macht an eine neue, die sich durch Selbstüber­windung und Selbsteinsicht in ihre Fehler und Untaten aufschwingt zu Pazifismus und wahrer Humanität – diese Utopie wird zum Vorwurf an und zum Sehnsuchtsprogramm für unsere Zeit. Wir sind eben, allem Fortschritt zum Trotz, nicht weiter als Racine und Mozart und Böcklin. Mit seiner Aufführung von "Mitridate, Re di Ponto" weist Theater Orchester Biel Solothurn die Aktualität des Klassikers überzeugend nach.

 

Der Eindruck, den die Produktion hervorruft, wäre nicht so nachhaltig, wenn sich nicht eine Riege von Könnern in ihren Dienst gestellt hätte. Das beginnt mit dem sehr beachtlichen Dirigat des Barockspezialisten Predrag Gosta, der bereits bei "Lucio Silla" vor einem Jahr eine Stimme veranlasst hatte, bei seinem Eintritt in den Orchestergarben nach der Pause "Bravo Maestro!" zu rufen. Dieser Ruf sei hiermit für "Mitridate" nachgeholt. - Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn, erfahren mit dem Stil des jungen Mozart, spielt engagiert, wach und federnd und führt die Zuhörer zu den überraschenden Schönheiten der Komposition mit der Beiläufigkeit souveräner Maestria. Das Orchester in Mailand kann nicht anders geklungen haben als das der Premiere in Solothurn. Jedenfalls nicht besser.

 

Den Eindruck erfrischender Authentizität rufen auch die Sänger hervor. Überraschend homogen agieren sie mit bemerkenswertem Einsatz ihrer vokalen und darstellerischen Mittel. Mit ihrem Schwung stellen sie sich neben die technische Makellosigkeit der Stars und erfüllen das allererste Erfordernis, das Roland Donzé zu stellen pflegte: "Est-ce que les personnages sont vivants?"

 

Unterstützt wird die Produktion in einem beachtlichen Mass – und das Wort "beachtlich" ist wörtlich zu nehmen – vom handwerklich untadeligen Zusammenspiel der optischen Faktoren: Gang, Haltung, Ausdruck der Sänger werden zur Geltung gebracht von einer Lichtführung (Samuele D'Amico), die den ganzen Abend subtil belebt, indem sie die Handlung unauffällig, aber wirksam von einer Stimmung in die andere gleiten lässt. Zusammen mit den Kostümen von Louis Désiré (ein Teil kommt immerhin aus dem Schlosstheater Drottningholm) und dem Bühnenbild von Diego Méndez-Casariego führt die Inszenierung von Francesco Bellotto zu einem "Mitridate", der menschlich, politisch, musikalisch und ästhetisch keinen Wunsch offenlässt.

 

Über Einfühlung zur Identifikation. 

Den Selbstdarstellern ausgeliefert.

 
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