"Hier steht's, wo die Benzinfässer herkommen. Hier." © Joel Schweizer.

 

 

 

Biedermann und die Brandstifter. Max Frisch.

Lehrstück ohne Lehre.                  

Katharina Rupp. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2018.

 

 

Von Anfang an erscheint Gottlieb Biedermann als das, was er ist: ein elendes Würstchen. Mit Grossmanns-Attitüden versucht er, über seine innere Unsicherheit und Schwäche hinwegzu­täuschen, doch wirkt er durch seine verzappelte Wichtigtuerei nur lächerlich. Die weit ausholende Gebärde, mit der er das Streichholz zur Zigarre führt, stellt ihn bloss. Anspruch und Persönlichkeit passen nicht zusammen. Und wenn er spricht, überschlägt sich seine Stimme: "Nicht einmal eine Zigarre kann man sich heutzutage anzünden, ohne an eine Feuersbrunst zu denken!" Er möchte Entrüstung ausdrücken und gerät ins Quieken: "Das ist ja widerlich". Der Mann ist eine Flasche. Aber keine Appenzeller-Flasche. Da steht nämlich auf dem Bauch: "Charakter. Stil. Persönlichkeit." Diese Eigenschaften gehen Gottlieb Biedermann ab, und Katharina Rupps Inszenierung zeigt das mitleidlos.

 

Weil ihm das Rückgrat fehlt, ist Biedermann ein Höseler (berndeutsches Wörterbuch: Feigling, Angsthase). Und weil er ein Hosenscheisser ist, weicht er jeder Konfrontation aus: "Sagen Sie Herrn Knechtling: Ich habe Besuch." Später muss das Dienstmädchen der schwarzgewandeten Witwe ausrichten: "Wenn Sie Frau Knechtling sind, dann hat's keinen Zweck, Herr Biedermann möchte nichts mit ihnen zu tun haben, hat er gesagt."

 

Durch seine Konfliktscheu, die ihn zwingt, an den Tatsachen vorbeizuschielen, fördert Biedermann die Katastrophe, vor der er sich fürchtet. Man kann dabei an alles Mögliche denken: An Chamberlain, der 1938 mit seiner Appeasement-Politik glaubte, Hitler zu besänftigen und den Krieg vermeiden zu können. Oder an die hunderttausend Flugbewegungen, mit denen Tag für Tag Millionen von Biedermännern von da nach dort geflogen werden, für Strandferien, Abenteuerexkursionen, Verwandtenbesuche oder auch bloss für Sitzungen und Kolloquien (am besten zum CO2-Abbau). Die Biedermänner sind nicht in der Lage, sich und ihr Tun wahrheitsgemäss zu erfassen und die Konsequenzen aus ihrem Verhalten zu ziehen. Sie sind unbelehrbar. Darum nennt Max Frisch sein Drama auch "Ein Lehrstück ohne Lehre".

 

So unangenehm es ist, Max Merkers Biedermann-Karikatur zuschauen zu müssen, so faszinierend sind die Bösen, die sich im Haus einnisten. Günter Baumann gibt Schmitz, den Ringer, mit der langsamen Schwere der brutalen Beschränktheit. Gelassen wie alle selbstbewussten Unkultivierten drückt er den Senf aus der Tube: "Senf ist nämlich meine Lieblingsspeise". Und mit kalter Verschlagenheit schmiert er Biedermann den Honig um den Mund: "Sie sind keiner von denen, der in der Wirtschaft ein grosses Maul verreist, weil er Schiss hat. Ihnen glaub ich's."

 

Wie der Ringer so dasitzt und isst ("futtert", schreibt Frisch in der Regieanweisung) und immer wieder gemächlich nach der Rotweinflasche langt, um das Glas aufzufüllen, bildet er die Gegenfigur zum verzappelten Biedermann. Der eine ist ganz bei sich, der andere ganz ausser sich. Der Schauspieler Baumann ist da wie verwandelt. Sonst hat seine Diktion immer etwas Jaulendes, weil er die Töne von unten her anzusteuern pflegt. Jetzt spricht er plötzlich wie ein anderer Mensch - und er ist ein anderer Mensch: Der Schauspieler befindet sich im Zentrum der Figur, und aus diesem Zentrum heraus bewegt er sich und spricht. So liefert jetzt seine Darstellung eine ununter­brochene Reihe feiner körpersprachlicher Pointen, die in der Szene gipfelt, wo er sich suchend auf dem Dachboden herumbewegt, bis er sie gefunden hat: "Hier, Herr Biedermann, hier ist die Etikette!" Biedermann: "Ich bin sprachlos –" Schmitz: "Hier steht's, wo die Benzinfässer herkommen. Hier."

 

Das Trio der starken männlichen Darsteller wird vervoll­ständigt durch Matthias Schoch, der den Eisenring, nun, sagen wir ruhig: verkörpert. Seine Handbewegungen zaubern nicht nur die Figur herbei, sie schaffen auch eine fremde Welt und unterstreichen die Situation; etwa wenn er erklärt, wie es damals war, im Grand Hotel: "Gans habe ich jeden Tag gegessen, wissen Sie, als Kellner. Wenn man so durch die langen Korridore flitzt, die Platte auf der flachen Hand. Aber dann, Madame, wo putzt unsereiner die Finger ab? Das ist es. Wo anders als an den eigenen Haaren? – während andere Menschen eine kristallene Wasserschale dafür haben! Das ist's, was ich nie vergessen werde.' Er taucht seine Finger in die Fingerschale. 'Wissen Sie, was ein Trauma ist?' Biedermann: 'Nein.' Eisenring: 'Haben sie mir im Gefängnis alles erklärt ...' Er trocknet seine Finger ab."

 

Die Szene steht so bei Frisch. Aber im Schauspiel von Biel-Solothurn realisiert sich erst ihre ganze theatralische Potenz. Hinter der Einfachheit vibriert die Vielschichtigkeit. Überlegenheit will Eisenring zeigen, gerade indem er vom "Trauma" spricht. Und der erklärende Ton, in dem er seine Ausführungen hält, soll Redlichkeit vortäuschen. Auf diese Weise ist Schochs Darstellung reich, faszinierend, anziehend und abstossend zugleich. Mit einer ganzen Reihe solcher Züge kommt am Ende zustande, was man eine differenzierte Aufführung nennt. Ein seltenes Glück.

 

Und da sind noch die Frauen. Barbara Grimm gibt Anna, das Dienstmädchen. Sie ist älter als alle andern. Sie gehörte schon zur Familie, als Gottlieb Biedermann kurze Hosen trug. Sie verkörpert das Ancien Regime. An ihr kann man ablesen, wie weit herunter es im Haus mit der bürgerlichen Form gekommen ist. Auch die Grimm bekommt trotz unbedeutender Dienerrolle ihren Glanzpunkt. Bevor Biedermann in den Keller steigt, sagt er ihr: "Sehen Sie zu, dass hier nicht alles so ordentlich ist!" Jetzt löst sie ihre hochgesteckte, überaus korrekte Matronenfrisur auf und kommt zum Servieren mit ungeordneten, wirren Strähnen. Ein stummer Protest, durch den die unbedeutende Figur Relief bekommt.

 

Unbedeutend auch Frau Biedermann: Ängstlich, unselbständig; die konventionelle Gattin, wie sie im Buche steht. Besetzt ist sie laut Programmheft mit Atina Tabé, doch anfänglich glaubt man es kaum: Die ist ja verwandelt! Es stimmt jeder Ton, jede Haltung, jede Gebärde. An ihrem Spiel erkennt man die begnadete Hand der Regisseurin. Ganz sachte hat sie die Darstellerin im Lauf der letzten Produktionen ins nächste Fach geschubst, von der Göre zur Frau. Und da stimmt sie. Jetzt erobert sie das neue Terrain von Stück zu Stück und bewegt sich immer sicherer. Als Babette Biedermann stimmt sie schlichtweg.

 

Wie aber ist diese umjubelte Premiere zustande gekommen? Die Bravorufe wiederholten sich bei jedem Hervortreten, und als die Rupp, leicht verlegen wie immer, mit ihrem Leitungs­team erschien, steigerte sich der Applaus zur Ovation. Wie hat sie's bloss gemacht? Sie hat ja nichts hinzugetan und nichts weggenommen. Alle starken Szenen stehen schon im Buch. Nur wirken sie dort nicht.

 

Man denkt zuerst an Hexerei. Denn Katharina Rupp kann mehr, als ein Stück zur Aufführung bringen. Sie kann zaubern. Aus dem abgestandenen "Biedermann" macht sie ein Drama, das alle an der Gurgel packt, und ganz nebenbei verwandelt sie auch ihre Schauspieler, so dass man am Ende nicht mehr weiss: War ich jetzt in Wien oder München? Wenn Katharina Rupp inszeniert, geschieht, was man nicht für möglich gehalten hätte.

 

So denkt man über das Theaterwunder nach, das sie schon seit elf Jahren mit der und jener Inszenierung am Jurasüdfuss vollbracht hat – spontan kommen einem gegen ein Dutzend Sternstunden in den Sinn – und nie hat man begriffen, woher sie's hat und wie sie's macht. Und jetzt, am Morgen nach dem fulminanten "Biedermann", die Erleuchtung: Katharina Rupp hat Vertrauen ins Stück! Das ist es! Sie tut nicht so, als wisse sie's besser. Unter ihrer feinen, ehrlichen, horchenden Arbeit beginnen die dürren Buchstaben des abgelebten "Biedermann" unversehens zu leben, und der Zuschauer erfährt das als kontinuierliche Steigerung. Zuerst denkt er: "Aha, so legt sie's an. Als Typenkomödie. Gut." Dann breitet sie, nach dem Bauplan des Autors, die weiteren Teile aus. Das Muster wird erkennbar, und man denkt: "Sie macht das mehr als gut. Sie macht's sehr gut." Schliesslich, auf der letzten Strecke, ist das Werk zusammengesetzt. Die Räder greifen ineinander. Das Stück beginnt zu leben. Jetzt wird man überwältigt von der bewegten Komplexität des Ganzen.

 

Solche Aufführungen werden nur möglich, weil die Rupp Ohren hat. Und Augen. Und einen Kopf. Und ein Herz. Und ein untrügliches Gespür fürs Tempo. Und für die Figuren. Und für den Tonfall. Und für die Stellungen. Und für die Gebärden. Kurzum: Ein Gespür fürs Theater. Wie gut, dass eine der besten lebenden Regisseurinnen in S-Bahn-Distanz von uns arbeitet. Man sage es weiter!

Die Räder greifen ineinander. Das Stück beginnt zu leben.

Ängstlich, unselbständig; die konventionelle Gattin, wie sie im Buche steht. 

Das Anzünden zeigt: Anspruch und Persönlichkeit passen nicht zusammen.

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