Eine falsch gestellte Weiche, und schon gerät der Lebensgefährte ins Abseits. © Philipp Zinniker.

 

 

 

Alzheim. Xavier Dayer.

Musiktheater in fünfzig Bildern.                  

Jochem Hostenbach, Ludger Engels, Ric Schachtebeck, Rolf Lehmann. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. Dezember 2017.

 

 

Es wird zwar finster, aber einige schwatzen noch. Der Dirigent Jochem Hostenbach steht mit gesenktem Taktstock vor den 13 Instrumentalisten (Streicher, Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Klavier), ohne ein Zeichen zu geben. So schleicht sich die Musik fast unbemerkt vom Publikum in den Saal. Primgeigerin Isabelle Magnenat spielt mit weitem Bogen eine gezackte, brüchige Figur. Sie erinnert an die Silhouette eines Eisbergs, den man in der Ferne wahrnimmt, piano pianissimo.

 

Es war nur ein Auftakt. Jetzt erst hebt Jochem Hostenbach den Stab, jetzt erst setzt das Ensemble ein, und sachte, sachte dämmert einem: Diese Klänge, ja, die haben doch bei ihrer Fremdartigkeit auch etwas Vertrautes - zweite Wiener Schule - Alban Berg – genau: "Wozzeck", Nummer 455, Tempo­bezeichnung "ganz langsam"! Die Streicher pianissimo mit liegenden Tönen, das zweite Horn mit Dämpfer "quasi echo" mit abgebrochenem Takt (der dritte Schlag fehlt). Marie steht in der Stube, "schmerzlich: 'Der Mann! So vergeistert! Er schnappt noch über mit den Gedanken!"

 

Mit dieser Allusion bekommt die Musik, die seit Schönberg gelernt hat, sich in der Oper autonom zu gebärden und ihre eigenen Wege zu gehen, in Xavier Dayers packendem Stück Musiktheater mit dem abgründigen Titel "Alzheim" bereits in den ersten Takten wieder Ausdruck und handlungsreflektierenden Sinn. So unvermerkt wie die erste Geige anhob, tritt nämlich auch die Krankheit zutage. Piano pianissimo.

 

Ein Paar sitzt am Tisch. Die Weingläser werden gefüllt. Der Mann schnuppert anerkennend: Ja, das Bukett stimmt. Er nickt. Jetzt beugen sich die beiden über den Teller: Mhm, Spaghetti! Da bemerkt die Frau, dass dem Mann das Essen immer wieder vom Besteck gleitet. Er benutzt den Löffel, um die Teigwaren aufzuwickeln, statt der Gabel. In diesem präzisen Moment kommt Alzheim zum ersten Mal an den Tag. Eine falsch gestellte Weiche, und schon gerät der Lebensgefährte ins Abseits. Immer weiter fährt er davon, wie die Rhätische Bahn im verwirrenden System der Kehrtunnel am Albula. Für einen Moment kommt er zwar ans Licht, doch dann verschwindet er wieder, unerreichbar in schmerzlich zunehmender Entfernung und Entfremdung.

 

Aber da ist noch die Musik mit ihrer ganzen rätselhaften Expressivität. Sie geht, wie die Krankheit, ihre eigenen Wege. Doch indem sie auf die realistische Darstellung der Krankheits­bilder auf der Bühne eine verfremdende Beleuchtung wirft, erweist sie sich durch die Distanzierung paradoxerweise auch wieder als verbinden­des Medium zu einer Welt, wo Worte und Gebärden nicht mehr hinlangen. Sie umfasst das ganze Elend von "Alzheim" mit entlastender Selbstverständlichkeit und hebt es gleichzeitig im doppelten Wortsinn auf, indem sie ohne Pathos und Getue eine geistige Dimension in die Geschichte einbezieht: "Wir stehen alle in Gottes Hand", erklärt der arme Pfarrer im Kar, "es kann heute sein, es kann morgen sein, es kann noch viele Jahre dauern" (Adalbert Stifter: Kalkstein).

 

So leise, exakt und vornehm entfaltet sich in "Alzheim" auch die Inszenierung von Ludger Engels. Es sind fünfzig Bilder, die Jürgen Berger nach Interviews in der Demenzstation in Baan Kamlangchay, Chiang Mai Thailand in sein Libretto gefasst hat. Die Halle von Vidmar 1 nimmt sie in ihrer ganzen Breite auf und verlängert die Handlung zwei, drei Mal durch diskrete Auftritte bis in den Zuschauerraum hinein. Denn es kann jeden treffen. Es kann heute sein, es kann morgen sein, es kann noch viele Jahre dauern.

 

Sehr präzis und gleichzeitig unauffällig sind die Orte gesetzt (Ric Schachtebeck). Und die Lichtwechsel (Rolf Lehmann) sind von einer solchen Subtilität, dass es wieder einmal angebracht ist, in den Stehsatz der "Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" zu greifen: "Zeichen einer qualitätsvollen Aufführung ist das Licht. In der Praxis kommt es nie vor, dass eine mittelmässige Inszenierung gutes Licht hat. Umgekehrt hat noch nie mittelmässiges Licht eine gute Inszenierung begleitet. Bei 'Alzheim' ist das Licht gut. Man merkt es an seiner belebten Unauffälligkeit im Zusammenspiel mit den Situationen, Orten und Figuren."

 

Damit fällt das Urteil leicht: Die Berner Uraufführung zum Thema Alzheimer ist ein Wurf. Keine der Befürchtungen ist eingetroffen, und jede Erwartung wurde übertroffen. Die hohe Intensität des Abends kommt zustande durch ein fein austariertes, ungemein genaues Zusammenspiel aller Beteiligten, das getragen wird von Respekt, Ernst und Menschlichkeit gegenüber den Betroffenen und ihrer Lage. 

 

Das Ensemble von Sängern, Schauspielern und Statisten zeichnet den Weg von hier nach drüben nach und erweist sich dabei als taktfest in jedem Sinn. Man möchte sie alle ins Herz schliessen, die Kranken, die Angehörigen, die Pfleger. So nimmt das Berner Musiktheater mit vorbildlicher Distinktion die Aufgabe wahr, uns vertraut zu machen mit einem Stück Leben, vor dem uns graut und das doch für den einen oder andern von uns unausweichlich ist, es kann heute sein oder morgen. Und wir lernen, zu diesen nach Alzheim Abgedrifteten ein Verhältnis der Zärtlichkeit zu entwickeln, das über alle Worte hinausgeht, so wie die Musik von Xavier Dayer.

Wir lernen, zu diesen nach Alzheim Abgedrifteten ein Verhältnis der Zärtlichkeit zu entwickeln. 

 
 
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