Der Tod der Kunst ist leere Konventionalität. © Judith Schlosser.

 

 

 

Anna Karenina. Jenö Hubay.

Oper.                  

Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. November 2017.

 

 

Wenn leere Konventionalität der Tod der Kunst ist, dann kommt Anna Karenina in Bern gleich sechs Mal zu Tode. Das erste Mal, wie es ihr Schöpfer, der Graf Leo Tolstoi vorsah: "Plötzlich erinnerte sie sich an den Menschen, der am Tage ihrer ersten Begegnung mit Wronskij vom Zuge überfahren worden war. Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen leichten Schritten stieg sie die niedrigen Stufen hinunter, die von der Wasserpumpe zu den Gleisen führten, und blieb unmittelbar neben dem Zuge stehen, der an ihr vorbeirollte. Sie richtete ihren Blick auf den unteren Teil des Wagens, auf die Schrauben und Ketten und die hohen eisernen Räder des ersten, sich langsam bewegenden Waggons. Sie versuchte, die Mitte zwischen den vorderen und hinteren Rädern abzuschätzen und den Augenblick, wann diese Mitte sich gerade ihr gegenüber befinden werde. Dorthin! sagte sie sich und starrte in den Schatten des Wagens und auf den mit Kohlen vermischten Kies, mit dem die Schwellen bestreut waren – dorthin, gerade in die Mitte; und ich bestrafe ihn und befreie mich von allem und von mir selbst."

 

An dieser Stelle erscheinen in Bern die Lichter der Lokomotive im Dampf, Anna Kareninas Schatten zeichnet sich davor ab, die Musik steigert sich zu einer Art von gedehntem Tusch – und dann kann der Vorhang niederfallen und der Applaus aufrauschen.

 

Das zweite Mal zu Tode kommt Anna Karenina durch die Umsetzung des tausendseitigen Romans in ein Opernlibretto von drei Aufzügen und vier Bildern. Die Täter heissen Alexander Góth und Andro Gábor. Man kann ihr Tun nicht als Mord quali­fizieren. Denn "Mord" bedeutet nach altem österreichisch-ungarischem Recht "Totschlag mit besonders verwerflicher Gesinnung". Die Librettisten aber wollten einfach eine schöne Literaturoper machen, wie sie den damaligen Gepflogenheiten entsprach (wir sind am Anfang des 20. Jahrhunderts). Dafür mussten sie halt Figuren weglassen, Handlungsstränge kappen, Dialoge verkürzen, Glieder abhauen. Das Verfahren ging von den alten Griechen unter dem Namen "Prokrustesbett" in die mythologische Überlieferung ein. Plädieren wir deshalb auf Körperverletzung mit tödlichem Ausgang.

 

Was steht zur Erwägung? Einerseits ein komplexer, personen­reicher Romanaufbau mit einer Behandlung der Zeit, die Vladimir Nabokov zum Jubeln brachte: "Der zeitliche Ablauf des Romans gründet sich auf ein künstlerisches Zeitgefühl, das in den Annalen der Literatur einzigartig ist." Und der grosse Erzähler des 20. Jahrhunderts (Nabokov ist der Schöpfer von "Lolita") eröffnet seine Analyse des Romans mit den Worten: "Tolstoi ist der bedeutendste russische Prosaautor."

 

Dies auf der einen Seite. Auf der andern Seite haben wir vier konventionelle Tableaus, in denen Chor und Solisten auf und abtreten können, wie das beim Kulissentheater gang und gäbe war. Das zweitletzte Bild zeigt ein Zimmer. Ausgerechnet ein Zimmer. Denn der Übersetzer der Oper, dessen Fassung jetzt in Bern gesungen wird, hatte seinerzeit ein Raunen in der Szene ausgelöst, als er, im Protest gegen die immer gleiche Theaterkost, eine Kritik mit den Worten begann: "Schon wieder ein Zimmer!" Und ausgerechnet dieser verständige Mann bringt jetzt Anna Karenina zum dritten Mal zu Tode. Denn er setzt die Dialoge in das allerbanalste Schmachtfetzendeutsch um, das wohl einem Lehár entspricht, nicht aber einem Tolstoi.

 

Anderseits passt Jenö Hubays Kompositionsstil wiederum ausgezeichnet zum Sprachstil der Groschenromane, so dass man wohl von Kongruenz sprechen kann (nicht aber, notabene, von Kongenialität; denn Genialität fehlt an diesem Abend auf allen Seiten). Hubay komponiert so, wie es einem Konservatoriums­direktor entspricht: schulmässig. Die Studenten können von ihm lernen, wie man's macht, so wie er seinerseits den Erfolgreichen in seiner Jugend die handwerklichen Kniffe abgeschaut hat. Und demgemäss baut er jetzt nach alter Schule seine Nummern zusammen, das heisst nach Schema F: Zuerst ein rhythmischer Grundteppich. Dann eine solistische Einleitung, Flöte gern, oder Klarinette. Die Figur mündet in einen Triller. Dann setzen die Streicher ein mit einer Tonfolge, die man am Konservatorium "Melodie" zu nennen pflegte. Dann, um den Höhepunkt zu markieren, ein Schlagzeug­wirbel. Dann, an den unheilvollen Stellen, ein dräuendes Streichertremolo. Dann, und dann, und dann. Statt lebendig strömender Musikalität halbindustrielle Montage komposi­torischer Bestandteile.

 

So führt Jenö Hubay den Kompositionsstil seiner Jugendidole weiter, obwohl im Uraufführungsjahr von "Anna Karenina" 1915 das Neue schon allenthalben aufgebrochen ist. Karl Millöcker ist 1899 gestorben. Johann Strauss Sohn auch. Und Dvorák 1904. Im selben Jahr schreibt Leoš Janáček seine "Jenufa". Im Jahr darauf Richard Strauss seine "Salome". 1908 die "Elektra". 1910 "Der Feuervogel" von Strawinsky. 1911 "L'Heure espagnole" von Ravel. 1913 "Le Sacre du printemps" von Strawinsky. - An diesen Marksteinen gemessen ist Jenö Hubays Kompositionsstil reaktionär. Passt aber, in der Machart, merkwürdigerweise zur Einführung des Fliessbands durch Henry Ford 1913.

 

Immerhin verhält sich jetzt die Berner Produktion kongruent zur Verspätung von 102 Jahren gegenüber der Uraufführung in Budapest. Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme entsprechen dem damaligen Stil glatter Konventionalität. Da werden kostümierte Menschen auf die Bühne gestellt und zu pittoresken, aber vollkommen nebensächlichen Gebärden angehalten. Während vorn die Solisten singen (Sopran, Tenor, Bariton, Bass, wie es sich gehört, auch eine Kinderstimme, jöh!, ist dabei), hantieren im Hintergrund Figuranten mit Eishockeystöcken und Curling­steinen. Dazu bietet eine Krämerin auf einem Brett Süssigkeiten an.

 

Ironischerweise hat das Produktionsteam in jedes Bild (wir sind im Dampfzeitalter!) einen Anachronismus eingeschmuggelt: Finde das Handy! Finde die Alufolie! Finde den Rollkoffer! Konzept mag ich das nicht nennen. Ich würde eher von Unbekümmertheit sprechen. Wenn nicht gar von Gedanken­losigkeit. Obwohl da noch eine stumme Figur dazuerfunden wurde. Der Muschik, der Anna Karenina wie ein Schatten verfolgt, um bei ihrem Selbstmord triumphierend den Hammer zu schwingen. Aber gegen solche Mätzchen hat der 2008 verstorbene Kritiker des "Bund" Martin Etter (-tt-) schon vor Jahrzehnten angeschrieben, und aus seiner Zeit stammen sie auch.

 

Übers Ganze gesehen jedoch reicht die Aufführung noch weiter zurück. Mein Grossvater war Statist am Berner Stadttheater von 1909 bis 1917. Ich sehe ihn im Jenseits nicken: "Ja, genau so haben wir's damals gemacht!" Und damit kommt nun Anna Karenina an ihrer Schweizer Erstaufführung in Bern nicht nur einmal, sondern sechs Mal zu Tode. Friede ihrer Asche.

Das zweitletzte Bild zeigt "schon wieder ein Zimmer".

Der Tod erfolgt in einem gedehnten Tusch.

 
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