Fin-de-Siècle-Musik aus der Feder von Jost Meier. © Sabine Burger.

 

 

 

Marie und Robert. Jost Meier.

Oper.                  

Kaspar Zehnder, Reto Nickler, Christoph Rasche, Katharina Weissenborn. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. November 2017.

 

 

Die Uraufführung von Jost Meiers neuester Oper "Marie und Robert" nach dem Dialektschauspiel von Paul Haller ist aus einem Guss. Das Stück wurde 1917 – also vor genau hundert Jahren – vom Aarauer dramatischen Verein zum ersten Mal gespielt. Und in dieser Zeit verankert es auch Librettist Hansjörg Schneider, indem er für die Oper einen Arbeiterchor dazuschreibt, der sein Elend, seine Anklagen und seine Forderungen mit erhobener Faust ins Publikum singt. Kostüm­bildnerin Katharina Weissenborn steckt dafür die Choristen in schwarze Gewänder und lässt ihre Gesichter durch die Maske (Sandra Schubert u.a.) schwarz einschmieren, was gleichzeitig die Anonymität der Masse und den russigen Dunst der Fabriken evoziert.

 

Als Dekor wählt Bühnenbildner Christoph Rasche eine expressionistische Schräge. Die schiefen Verhältnisse werden damit augenfällig. Besonders aufregend ist die Position des Rollstuhls, an den die Mutter gefesselt ist: Eine falsche Bewegung, ein versehentliches Lösen der Bremse, und sie landet im (Orchester-)Graben. Damit ist klar: Wir leben in einer strengen Zeit. Die Leute dürfen sich nicht rühren. Sie müssen an sich halten.

 

Regisseur Reto Nickler unterstreicht diesen Ansatz durch die Wahl des Inszenierungsstils: 1920er Jahre. Expressionistische Körperhaltungen, weit geöffnete, rollende Augen, übernatura­listische Gesichtssprache. Da ist für die Zuschauer kein romantisches Glotzen mehr möglich. Und auch kein bürgerlich-psychologisches Einfühlen mehr. Wenn Marie und Robert das "Damals am Ufer der Aare" besingen, drückt sich darin nicht Nostalgie und dankbare Erinnerung aus, sondern Schmerz über eine falsche Entscheidung und ein verpfuschtes Leben. Die Bühne übernimmt Reto Nicklers ästhetische Wahl, indem sie ihren Stil ebenfalls den 20er Jahren entlehnt. Eine halbtransparente Brecht-Kurtine, Dunkelheit und harter Minimalismus im Stil von Caspar Neher prägen den Spielort.

 

Auch die Musik, die Jost Meier geschrieben hat, entspricht jener Zeit. Sie gehört noch zur Epoche der gemässigten Atonalität. Vielleicht liegt man nicht ganz falsch, wenn man beim Hören an die Zemlinsky-Schule denkt. Ja, Uraufführungs­dirigent Kaspar Zehnder sagt sogar: "Die Musik von Jost Meier entstammt für mich ganz klar dem Fin de Siècle". Und im Programmheft-Interview fährt er fort: "In Meiers Komposition klingen Einflüsse von Claude Debussy oder Alban Berg an, zum Beispiel, wenn transzendentale Elemente hinzukommen, auch von Leoš Janáček. Das Werk ist nie tonal, aber auch nicht konsequent zwölftönig. Berg und Debussy sind beide in gewisser Art und Weise auch Wagner-Nachfolger – Jost Meiers 'Marie und Robert' hat auch leitmotivische Elemente."

 

So ist das Werk durch Handlung, Bühnenbild, Kompositionsstil und Regiesprache konsequent in der Zeit verortet, in der es entstand: frühes 20. Jahrhundert. Und darum wehrt Kaspar Zehnder auch die Frage der Dramaturgin Joëlle Jobin nach der "besonderen Gegenwärtigkeit" der Oper entschieden ab: "Für mich ist das Werk historisch. Der Landesstreik war vor hundert Jahren."

 

Damit kommt die Frage ins Blickfeld, die Fontane mit den Worten umfasste, "ob das Gewollte ein Wollenswertes, überhaupt ein Zulässiges war". Der feinhörige Dichter mit seiner unnachahmlich biegsamen Prosa hätte sich vermutlich mit der Feder an der Schläfe gekratzt. Er hätte wohl gesehen, dass "die Bühne kein Schauplatz für Nuancierungen" sei. "Sie ist der Schauplatz für Gegensätze. Nur diese schaffen Orientierung, Klarheit. Nuancierungen sind der Stolz des Romans, im Drama sind sie der Ruin." Und so hätte er den holzschnittartigen Stil, auf den Schneider, Nickler und Rasche Paul Hallers "Schauspiel in drei Akten" reduziert haben, nicht a priori verwerfen können.

 

Er hätte aber auch zu erwägen gegeben, dass Paul Hallers Oeuvre umfangmässig zu drei Vierteln aus Mundartgedichten besteht. Und auch das Schauspiel ist in Mundart geschrieben. Es ist da eine ganz besondere Sprachsensibilität am Walten. Roland Donzé sprach in diesem Zusammenhang von "la petite musique". Und von Sprachsensibilität sind auch die Dialoge geprägt, die Paul Haller schrieb. Das Programmheft konzediert die Bedeutung der Mundart, indem es auszugsweise den Brief aus Schiers vom 5. Dezember 1915 an den Bruder zitiert. Ungekürzt lautet die Stelle: "Ich möchte Dir eigentlich nur etwas von meinem Drama berichten, das ist für mich das Tagesereignis. Pfarrer Schäfer hat es zuerst seiner Frau gelesen; gestern Abend habe ich's nun selbst bei Schmitters vor einigen Kollegen vorgetragen. Mich hat es selbst zu Tränen gepackt, zum Glück ist's auch an den andern nicht vorübergegangen. Es ist wirklich dramatisch und das ist ja die Hauptsache. Die Entwicklung ist mir denn auch ziemlich leicht und ganz natürlich aus dem Stoff herausgefallen. Eine so leichte, fast selbstverständliche Produktion habe ich noch nie erlebt. Der dritte Akt ist ganz umgearbeitet, wohl auch jetzt noch nicht in seiner definitiven Gestalt. Ich hab's in der Schulzeit zustande gebracht, und doch braucht es wahrhaftig keine schwache Konzentration dazu. Kurz, ich habe rechte Freude. Endlich etwas! Und dass die Mundart auch zum ernsten Drama sich eignet, das steht mir jetzt fest. Hoffentlich gilt der Beweis überhaupt." Ob die Meinung stimmt, kann man am Ausschnitt nachprüfen, den das Programmheft auf Seite 11 anführt.

 

Die besondere Eignung der "Mundart auch zum ernsten Drama" geht natürlich mit der Umsetzung ins Hochdeutsche verloren. Als erfahrener Librettist weiss Hansjörg Schneider, dass er der Musik den Vorrang einzuräumen und den Text zu verknappen hat. Und so entsteht jetzt aus Hallers Dialogen Gesang. Operngesang. Also ein neues Genre.

 

Wer Oper im Stil Jost Meiers liebt, wird darüber entzückt sein. Beim Hinausgehen hielt mich die Präsidentin der "Freunde des Bieler Stadttheaters" auf, um zu sagen: "Ich bin begeistert! Diese Musik!" Was das Gesangliche angeht, wird ihr niemand widersprechen. Intendant Dieter Kaegi hat sich längst einen Namen gemacht, sehr gute Stimmen an den Jurasüdfuss zu bringen.

 

Gesanglich und darstellerisch geben Leila Pfister als Marie und Geani Brad als Robert alles, um uns zu erreichen, und sie tun's. Der Wirt, die Mutter, der Häusermakler, ja auch das weissgewandete Mädchen, das Roberts besseres Ich verkörpert, bleiben in keiner Weise hinter den Hauptrollen zurück (Boris Petronje, Franziska Hirzel, Konstantin Nazlamov, Shirin Patwa).

 

Aber die Sprache, in der sie singen, ist nicht mehr Hallers Sprache. Und Schneiders, hätte ich gesagt, auch nicht. Es ist farblos-neutraler Operntext. Nichts von "Was bist so still, Bub. Fürch'st dich? Es wird so dunkel, dass man meint, man wird blind: sonst scheint doch die Latern' herein! Ach! Wir arme Leut."

 

Es wäre besser gewesen, man hätte die Oper in der Mundart belassen können. Bloss: Wer könnte sie dann singen? Und damit verschärft sich die Frage, ob das Gewollte überhaupt ein Zulässiges war. Jetzt sind wir in hochdramatischen Gefilden und nicht mehr im grauen Schweizer Mittelland, wo die Aare breit und träg an Aarau vorbeifliesst und wo sich Paul Haller im Alter von 37 Jahren den Tod gab.

 

Im Bühnenbild: expressionistische Schräge.

Auf der Bühne: die Brecht-Kurtine.

Und am Schluss: das weisse bessere Ich.

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