In der Ouvertüre sehen wir, wie der Flirt mit den Blicken aufgenommen wird. © Philipp Zinniker.

 

 

 

Don Giovanni. Wolfgang Amadeus Mozart.

Oper.                  

Kevin John Edusei, Matthew Wild, Kathrin Frosch. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Oktober 2017.

 

 

Wie zur Mozartzeit ist die Inszenierung geprägt vom Wechsel zwischen langer und kurzer Bühne. Die Stücke waren damals alle dafür geschrieben, egal ob Schauspiel oder Oper. Es hiess dann etwa: "Erster Aufzug [d.h. erste Dekoration, die die Technik an den Schnüren aufzuziehen hatte]: Im Schloss zu Fotheringhay. Ein Zimmer." Und darauf, nach Vertiefung der Bühne: "Zweiter Aufzug: Der Palast zu Westminster." (Maria Stuart) Oder: "Erster Aufzug: Platz vor einer Waldschenke. – Zweiter Aufzug: Vorsaal [= Entrée] im Forsthause." (Der Freischütz)

 

Und so schiebt sich jetzt in Bern nach jeder grossen Nummer eine Kulisse links und rechts aus der zweiten Gasse und verdeckt das Tableau, das abgebaut und neu eingerichtet wird, während vorn, auf der "kurzen Bühne", weiter­gesungen wird. Es sind die Szenen ohne Chor, die hier vor einer Wand aus brauner Holzimitation stattfinden, wie sie in den 1980er Jahren (wo die Handlung jetzt angesiedelt ist) in den Lounges von schnell aufgezogenen Hotels und Flughäfen beliebt war. Diese Kunstholzpaneele umfassten jene Orte, an denen man sich begegnete, und "Don Giovanni" ist die Oper der Begegnungen; der erwünschten und der unerwünschten. Einerseits: "Ach, komm ans Fenster, meine Geliebte." (Deh! Vieni alla finestra, o mio tesoro.) - Anderseits: "Don Giovanni, du hast mich eingeladen, mit dir zu essen, und ich bin gekommen." (Don Giovanni, a cenar teco / m'invitasti, e son venuto.) - "Don Giovanni", eine Oper der Begegnungen. Das ist der Kerngedanke von Matthew Wilds Inszenierung. Und die Bühnenbildnerin Kathrin Frosch setzt ihn kongenial um.

 

Die Alten haben ja schon gewusst, warum sie für ihre Nummern­opern den Wechsel von kurzer und langer Bühne verlangten. Die kurze Bühne erlaubt den Rampengesang, ohne dass dafür eine Erklärung nötig ist, und sie schafft ideale akustische Verhältnisse: Die Sänger werden in grösste Nähe zum Publikum gebracht, und die Kulisse in ihrem Rücken wirft den Ton nach vorn. - Matthew Wild benutzt jetzt diese Nähe, um das Mienen- und Gebärdenspiel der Sänger herauszuarbeiten, die sich in diesen Momenten der höchsten Konzentration als filmreife Darsteller entpuppen, so dass die realistische Sprache, in der "Don Giovanni" erzählt wird, in keiner Sekunde aussetzt. Dadurch ergibt sich zugleich ein durchgehender Spannungsbogen und eine schlüssige, in sich geschlossene Interpretation des 230jährigen "dramma giocoso".

 

In die Wand links und rechts sind zwei Monitore eingelassen. Sie zeigen in Schwarzweiss, wie 1980 üblich, was anderswo gerade abläuft oder abgelaufen ist. Die Begegnungsoper "Don Giovanni" wird damit auch zum Kreuzungspunkt von Gegenwart und Vergangenheit. Der narzisstische gegenwartsversessene Hedonismus des Wüstlings (il dissoluto) wird eingeholt von der Verantwortung für die vergangenen Taten, und seine entfesselte Gier, die von den Konsequenzen der Handlungen nichts hören wollte, kann sich am Ende der Rechenschaft nicht mehr entziehen: "Commendatore: Reich mir die Hand zum Pfand. - Giovanni: Hier ist sie ... Ah! - Commendatore: Was hast du? – Giovanni: Was ist das für eine Eiseskälte! - Commendatore: Bereue. Kehre um. Dies ist dein letzter Moment."

 

Durch die von Kombination von Zwischenkulisse und Video – also der Verbindung von alten und modernen Theatermitteln – stellen Matthew Wild und Kathrin Frosch die Handlung in einen Rahmen, der aufregender, vielschichtiger und sinnvoller nicht sein könnte. Don Giovannis Taten sind, wie wir wissen, in einem Register festgehalten: "Madamina, il catalogo e questo" (hier, mein kleines Dämchen, ist der Katalog). In Bern befinden sich die Aufzeichnungen in grossen Kartonschachteln, und sie bestehen aus VHS-Kassetten. Auf den Etiketten sind mit schwarzem Filzstift die Namen der Eroberten festgehalten: ELVIRA. ANNA. Ja, die auch. Das Publikum wird vom ersten Moment, also vom Zeitpunkt null an Zeuge, wie deren Geschichte anfängt und verläuft, die das dramaturgische Rückgrat der Oper bildet.

 

In der Ouvertüre sehen wir, wie der Flirt mit den Blicken aufgenommen wird; wie Anna, die junge Verlobte, mit Giovanni, dem Verführer, davonschleicht; und wie sie sich ihm auf dem kreisrunden Luxusbett hingibt. Das sehen wir mit eigenen Augen, bevor noch die erste Szene des ersten Aufzugs eingesetzt hat. In "No. 10: Recitativo accompagnato ed aria", also in der 13. Szene, vernehmen wir dann die Version, die Donna Anna ihrem Verlobten erzählt: "Die Nacht war schon ziemlich hereingebrochen, als ich in meinen Gemächern, wo ich mich zu meinem Unglück einsam aufhielt, einen Mann hereinkommen sah, den ich in seinen Mantel gehüllt im ersten Augenblick für Sie hielt. Ohne ein Wort zu sagen, kommt er an mich heran, will mich umarmen. Ich versuche, mich zu befreien. Er umfasst mich stärker. Ich rufe: Niemand kommt." Während Donna Anna das erzählt, wissen wir: Es stimmt nicht! So haben sich die Dinge nicht ereignet.

 

Und nun, am Schluss der Oper, in der 12. Szene des 2. Aufzugs, steht sie da, die verfluchte Kassette, von Leporello diabolisch ausgehändigt, in der Mitte zwischen Donna Anna und Don Ottavio, auf dem Boden der kurzen Bühne, und zeugt schweigend von dem, was wirklich war. "Du weisst, wie sehr ich dich liebte. Du kennst meine Treue", singt Donna Anna. Doch Ottavio kann seine Neugier nicht bezwingen, und während der Liebesbeteuerungen der Verlobten schiebt er die Kassette in die Abspielvorrichtung ein und erblickt auf dem Bildschirm die Verführungsszene, die gar keine Verführung zeigt, sondern einvernehmlichen Sex. Anna ist als Lügnerin blossgestellt. Sie geht ab mit der Bitte: "Vielleicht wird eines Tages auch der Himmel mit mir Mitleid empfinden."

 

Und da kulminiert die reiche Inszenierung, die im ganzen Spielverlauf schon so viel Neues und Richtiges brachte, dass es eine einfache journalistische Analyse gar nicht zu fassen vermag – jetzt also kulminiert Matthew Wilds Inszenierung in einem berührenden Akt gelebter Humanität. Don Ottavio zieht das Magnetband aus der Kassette und vernichtet damit die Aufnahme, bevor er abgeht: "Ah, folgen wir ihr. Ich will ihr Leid teilen. Ihre Seufzer werden in meiner Gesellschaft leichter sein." - "Parte." Mit diesem Abgang wertet die Inszenierung die schwache, meist unterschätzte Figur auf zum valablen Gegenspieler Don Giovannis, weil nun in Ottavio ein umfassenderes Konzept von Liebe lebendig wird. Damit braucht die Aufführung Höllenstrafe und Moralpredigt nicht mehr. Don Giovanni – diese Ausgeburt der dichterischen Phantasie - entschwebt auf einem Pegasus nach oben. Konsequenterweise wird jetzt die letzte Szene gestrichen, und die Oper endet mit den Worten: "Don Giovanni: Ah! – Leporello: Ah!"

 

Was bleibt da noch zu sagen? Das Berner Stadttheater, das Mozarts Meisterwerk aus seinem Ensemble besetzen konnte und mit seinem Symphonieorchester unter Kevin John Edusei einen hellen, energisch-federnden, wunderbar durchhörbaren Klang hervorbrachte, mit tadelloser Balance zwischen Bühne und Graben, dieses Stadttheater ist in der vordersten Liga der Opernhäuser angekommen. Das zeigte der Reigen der Intendanten, die der Premiere am Aarehang beiwohnten. Und die Besuche von Limmat, Rhein und Main werden auch nicht abreissen, solange das famose Team unter Leitung von Xavier Zuber das Musiktheater vorantreibt von Inszenierung zu Inszenierung.

Durch die realistische Sprache ergibt sich ein durchgehender Spannungsbogen.

Die Aufzeichnungen befinden sich in grossen Karton-schachteln, und sie bestehen aus VHS-Kassetten.

"Don Giovanni" ist die Oper der Begegnungen; der erwünschten und der unerwünschten.

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