Falstaff. Giuseppe Verdi.

Komische Oper.                  

Daniel Harding. Orchestre de Paris in der Philharmonie de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2017.

 

 

Vom besten Platz in der Philharmonie, 1. Balkon Mitte, direkt gegenüber dem Dirigenten, bekommt man mit, wie willig das Orchestre de Paris dem energisch-vorwärtsdrängenden Stil seines neuen Chefdirigenten folgt (seit 2016). Blitzschnell realisiert es die zahlreichen Motivwechsel der humor­sprühenden, anspielungsreichen Partitur, mit der Verdi den Glückswechsel des Ritters mit dem dicken Wanst begleitet. Die Intrigenkomödie, die Librettist Arrigo Boito meisterhaft aus Shakespeare gezimmert hat, heilt den Grandiositätswahn des selbstüberheblichen Aussenseiters mit der List und Tücke der lustigen Weiber von Windsor. Durch Täuschung kommt der Held zur Ent-täuschung, der hinterhältig arrangierte Feenspuk im dritten Akt führt zu schulterzuckender Resignation: "Was will man? Alles in der Welt ist Spiel, Spott, Fopperei." (Tutto nel mondo è burla.)

 

In der Philharmonie bekommt man vom besten Platz aus mit, wie das Orchester diesen Lauf der Dinge engagiert, wach und federnd nachzeichnet, geleitet von den genauen, souveränen Gesten Daniel Hardings, der gleichzeitig im Drama drin ist und darüber schwebt. Eine tadellose Leistung; unsentimental und jugendlich-frisch.

 

Wohlgelaunt übernehmen die Sänger diese Interpretationsweise. Obwohl es sich bloss um eine konzertante Aufführung handelt, bekommt man in der Philharmonie vom 1. Balkon Mitte aus mit, dass sie ihre Rollen nicht bloss singen, sondern spielen. Sie brauchen keine Notenblätter, sie haben ihren Part drauf, allen voran Ambrogio Maestri. Er ist so in die Titelfigur hineingewachsen, dass man ihm auch auf der Strasse den Sir John Falstaff abnehmen würde, ohne die Identitätskarte zu verlangen. Das wissen, seit 2001, die Besucher der Scala, der Met, der Münchner Staatsoper, des Zürcher Opernhauses und der Salzburger Festspiele. Auf gleicher Höhe spielt das übrige Ensemble, so dass man von einer homogenen, rundum geglückten musikalischen Interpretation sprechen kann.

 

Während der ganzen Aufführungsdauer ist vom besten Platz des Saales aus indes auch zu hören, dass sich die Philharmonie de Paris mit Klauen und Zähnen der konzertanten Wiedergabe von Opern widersetzt. Sobald der Bereich des Mezzopiano verlassen wird, raubt sie mit ihrem grausamen Nachhall der Partitur das Trocken-Federnde, durch das sich der Duktus von Verdis Alterswerk in "Falstaff" auszeichnet. Die Stimmen der Sänger werden fürs Ohr aus der putzigen englischen Kleinstadt auf die Empore des Kölner Doms katapultiert, wo die Intrigen der mittelständischen Hausfrauen das Pathos von Schillers "Ode an die Freude" annehmen. Und sobald das Orchester laut spielt, ist es auch mit der berühmten Durchhör­barkeit vorbei. Die Register verschwimmen zu Brei. So beweist der Saal von der ersten Spielminute an mit sturer Hartnäckigkeit, dass er für Oper nicht gebaut wurde und sich dafür auch nicht hergibt.

 

Daneben ruft das Werk selbst in jeder Minute nach Vervollständigung durch die Bühne. Die musikalischen Motive, die Personen und ihre Konstellation, die Handlung und ihr durch die Spielorte gegebener Raum können ganz anders zu uns sprechen, wenn die Eindimensionalität der Tonspur in die Dreidimensionalität des Theaters einfliesst und damit das multifaktorielle Geschehen "Falstaff" zum Leben bringt. Dann erst wird die halbe Sache zu einer ganzen. Merke!

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