Laurent Stocker (rechts) fügt den grossen Hitler-Darstellungen eine weitere hinzu. © Christophe Raynaud de Lage.

 

 

 

Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Bertolt Brecht.

Schauspiel.                  

Katharina Thalbach, Ezio Toffolutti. Comédie-Française, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Mai 2017.

 

 

Die Pariser Kritik sprach von "Vintage" und meinte damit den Regiestil: "Überholt, aber sehr, sehr gut." Für den "aufhalt­samen Aufstieg des Arturo Ui" hatte die Comédie-Française Katharina Thalbach vom Berliner Ensemble geholt, und die deutsche Regiefrau inszenierte Brecht ohne Abstriche im reinen Brecht-Stil und stellte damit unter Beweis: Das Stück ist zwar überholt, aber sehr, sehr gut - wenn man es mit Ausnahme­schauspielern besetzen kann. Unter dieser Bedingung hat die Aufführung Frische, Schmiss und Biss. Während des ganzen Abends (2 Stunden 10 Minuten ohne Pause) kommt niemand im vollbesetzten Haus in Versuchung zu husten oder mit den Füssen zu scharren, und die Schüler saugen das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen ein.

 

"Vintage" ist auch Brechts Analyse von Adolf Hitler. Der Stückeschreiber sieht ihn als Marionette des Grosskapitals. Darum verpflanzt er die Handlung nach Chicago, wo sich Gangster und Unternehmer (also dasselbe Pack) gegenseitig die Macht über den sogenannten freien Markt abjagen. "Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten." (Brecht)

 

Im "aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui" findet der Antisemitismus keine Erwähnung. Unausgesprochen bleibt auch die Aufrüstung. Das Stück endet mit dem Anschluss Österreichs, dargestellt als gewaltsame Annexion des Blumenhandels durch den Blumenkohl­trust. Nicht thematisiert werden die Konzentrationslager, die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und die Ermordung der Juden. Brecht schreibt das Stück 1941. Noch meint er, die Bande werde letzten Endes an den Rivalitäten ihrer Führer zugrunde gehen.

 

Wenn jetzt "Arturo Ui" an der Comédie-Française Triumphe feiert, so liegt das nicht an der einseitigen Analyse vergangener geschichtlicher Ereignisse, sondern an der faszinierenden szenischen Umsetzung. Das Bühnenbild von Altmeister Ezio Toffolutti, der auch die Kostüme entworfen hat, schafft dafür hervorragende Voraussetzungen. Die gesamte Spielfläche macht die Instabilität der Verhältnisse augenfällig: Was darauf kommt, gerät ins Rutschen und kann sich nicht halten. Damit ist die Lage der Dreissigerjahre schon erfasst. Der glatte Bühnenboden ist mit unsichtbaren Falltüren durchsetzt, aus denen dämonisch geschminkte Fratzen ans Licht kommen: "Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" Die Figuren agieren hinter einem riesigen Spinnennetz, das sie als Geschmeiss denunziert. Das Beste wäre, man könnte sie beseitigen. Aber dafür brauchte es den Mut zu einer Revolution: "Ihr aber handelt, statt zu reden noch und noch."

 

Aus Stück und Bühnenbild wächst das stupende Spiel des (zu recht) vielgerühmten Ensembles, und am Schluss nehmen die zwanzig Darsteller in einer Reihe den donnernden Applaus entgegen, der den Vorhang immer wieder zum Aufgehen zwingt. Und doch: So gut jede einzelne Figur besetzt ist, Arturo Ui ragt aus allen andern heraus. Laurent Stocker fügt den grossen komödiantischen Führer-Darstellungen (Chaplin, Lubitsch, Tabori) eine weitere hinzu. Die seine. Und seinetwegen lohnt sich die Fahrt nach Paris. Man würde die Brillanz dieser Darstellung nicht für möglich halten, wenn man nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie es Laurent Stocker gelingt, durch Anschaulich­machen zu entlarven. Je faszinierter man aber sein vielgliedriges, bis in die Details gemeistertes Spiel verfolgt, desto stärker ist man angewidert vom Wurm, den er auf die Bühne bringt. Damit erreicht die Dialektik von Darsteller und Dargestelltem, wo sich Grauen mit Verzückung mischt, einen neuen Gipfel.

Ein riesiges Spinnennetz denunziert die Figuren als Geschmeiss.

 
 
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