Das Gewahrwerden von Verschiedenheit, Uneigentlichkeit, Lüge. © Georg Soulek.

 

 

 

Die Wiedervereinigung der beiden Koreas. Joël Pommerat.

Schauspiel.                  

Peter Wittenberg, Florian Parbs. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2017.

 

 

Beim Aufwachen stand die Kritik fertig da.

 

Zuerst Vorstellung des Verfassers: Joël Pommerat, 1963 in Frankreich geboren; drei Mal mit dem Prix Molière bedacht, ausserdem mit dem Grand Prix de la littérature dramatique, dem Prix Beaumarchais und dem International Opera Award (Programmheft); im März 2011 widmete die französische Tageszeitung "La Libération" seiner Theaterarbeit vier volle Seiten (Wikipedia).

 

Dann Vorstellung des Stücks: In den 19 Szenen, die "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" ausmachen, werden "zwischenmenschliche Beziehungen und Emotionen behandelt" (Programmheft). Es handelt sich dabei, wie die Aufführung zeigt, um schauspielerische Etüden. Mit wenigen Strichen wird eine Situation umrissen: das Zusammenkommen; das Gewahrwerden von Verschiedenheit, Uneigentlichkeit, Lüge; das Ausein­andergehen. Dafür verlangen die Szenen bloss ein Requisit, ein Kostüm, ein Möbelstück, ein Bühnenbildelement (Bühne: Florian Parbs). Den Rest rufen die Schauspieler herauf, mit hoch­kontrolliertem realistischem Spiel.

 

Für die Schauspieler der Burg ein Fressen: Endlich wieder in eine Rolle steigen. Endlich wieder einen Menschen zeigen, und nicht nur einen, sondern drei, vier, mehrere ... Wahrschein­lich waren schon die Proben ein Fest, angeleitet vom sensiblen, fein horchenden Peter Wittenberg. - Das Publikum erkennt sich in den Situationen wieder. Es nimmt Partei. Und immer wieder fragt es sich: "Wie würdest du reagieren?" Identifikatorisches Theater vom feinsten. Französische Schule halt, nicht deutsche.

 

Schliesslich die Würdigung des Ganzen: Das Problematische einer Ansammlung von Szenen liegt darin, dass nie klar wird, warum es gerade so und so viele sein müssen. Ob es nicht zwei, drei weniger hätten sein können, oder, je nach Fall, auch mehr. – Auch die Reihenfolge hat etwas Zufälliges: Spiegelt das Durcheinander die Werkchronologie wider (so sind eben die einzelnen Szenen aus dem Kopf des Autors hervorgetreten)? Oder wurde die Unordnung nach ästhetischen Gesichtspunkten herbeigeführt (Robert Herrick, 1591-1674: Delight in Disorder)?

 

Doch dann merkt man: Darüber hast du schon geschrieben. Es muss Ende der 1970er, Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Lass das weg!

 

So wendet sich jetzt der Blick den einzelnen Szenen zu. Köstliche kleine Gebilde. Schmankerln. Jedes weckt Lust auf mehr: Wie ist es weitergegangen? Wo lag die Wahrheit? Mit der "Wiedervereinigung der beiden Koreas" serviert Joël Pommerat seinen Gästen eine Schachtel voller Pralinen. Jede apart. Jede mit ihrem besonderen Aroma. Jede eine Kreation für sich. Aber nach 19 Kugeln hat man genug.

 

Und wieder wird man gewahr: Das kannst du nicht bringen! Diesen Gedanken hat schon jemand gehabt ... Richtig: Der Kollege von der "Süddeutschen Zeitung". Nach der Premiere vom 29. April 2016. Also lass das weg! Sag lieber: Mit den 19 Szenen der "Wiedervereinigung der beiden Koreas" erweisen sich Joël Pommerat und das Ensemble des Burgtheaters als 19fache Weltmeister im Zehnmeterlauf. (Dank an Friedrich Torberg für diese Pointe.)

Köstliche kleine Gebilde.

Jedes weckt Lust auf mehr.

Wie ist es weitergegangen?

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0