Hanjo. Toshio Hosokawa.

Oper.                  

Kevin John Edusei. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Mai 2016.

 

 

Peter Ustinov (seit 1990 Sir), der auf eine lange und beeindruckende Karriere als Bühnen- und Filmschauspieler, Bühnenbildner, Opern- und Filmregisseur sowie Drehbuch-, Theater- und Prosaschriftsteller zurückblicken konnte, stellte vor fünfzig Jahren fest, wie wenig hilfreich Kritik für den Künstler sei, weil zu gelehrt, zu intellektuell, zu kopflastig, mit einem Wort: zu einschüchternd. Der Künstler aber sei ein eher einfaches Wesen, und er verfolge eher einfache Ziele. Darum sei das Gerede über die Werke für ihn verwirrend: "much ist talked, much is written". Wollte der Künstler alles, was geschrieben und gesagt wird, zur Kenntnis nehmen, würde er aus der Bahn geworfen, verwirrt, gelähmt.

 

In der Zwischenzeit haben sich die Verhältnisse verschoben. Heute trifft für die Künstler das "much is talked, much is written" im Rahmen der Selbstvermarktung zu, namentlich auch durch die kunstnahen Berufe der Dramaturgen, der Musik-, Literatur- und Rezeptionswissenschafter sowie der praktischen und theoretischen inter- und transdisziplinären Theater­wissenschaft. Die Zuschauer wiederum als eher einfache Wesen mit eher einfachen Fragestellungen werden von den Ansprüchen, die die Welt der Kunst heute an sie stellt, vielfach eingeschüchtert, gelähmt, abgeschreckt.

 

So auch an der Schweizer Erstaufführung von "Hanjo", Oper in einem Akt von Toshio Hosokawa mit einem Libretto des Komponisten nach dem Nô-Spiel von Yukio Mishima in einer englischen Übersetzung von Donald Keene. Der Nachbar zur Linken, ein distinguierter älterer Herr, neigte bald schon den Kopf zum Schlafen, ermannte sich dann aber und blickte danach alle fünf Minuten auf die Uhr, um abzuschätzen, wie lange es noch dauere, bis die achtzig Spielminuten abgesessen seien. Seine beiden Vordermänner hingegen nickten ungeniert ein und schliefen bis zum Schluss der Vorstellung durch, während ihr Nachbar zur Rechten anfing, Mails zu checken. Für sie alle war das entschleunigte Tempo, mit dem "Hanjo" daherkommt, fatal.

 

Ein langes Orchestervorspiel, das aus dem Nichts der Stille erwacht. (Im akustisch problematischen Kubus beginnt es aus dem Grundrauschen der Ventilatoren von geschätzten 15 bis 20 dB nach geschätzten 25 Takten aufzutauchen.) Beeindruckend schon jetzt die Aufstellung und Vielfalt der Instrumente, der Ernst der Musiker, ihr solistischer Einsatz mit zarten, oft nur gezupften oder einzeln angeschlagenen Tönen; eine wieselflinke Perkussionistin, die, um einen Schlag auf Fell oder Metallplatte zu geben, weite Wege hinter der Batterie zurücklegen muss.

 

Dann eine gesungene, lange Exposition, auf japanischen Text komponiert, aber ins Englische übersetzt, vorgetragen von Claude Eichenberger: Der Beginn einer Liebesgeschichte, die keine Fortsetzung fand und sich gerade deshalb im Gedächtnis, nein, in dieser Oper gar: "im Gedenken" eingrub gemäss dem Seelenmechanismus, den Wilhelm Busch in seinem Gedicht "Reue" beschrieben hat:

 

Die Tugend will nicht immer passen,

Im ganzen lässt sie etwas kalt,

Und dass man eine unterlassen,

Vergisst man bald.

 

Doch schmerzlich denkt manch alter Knaster,

Der von vergangnen Zeiten träumt,

An die Gelegenheit zum Laster,

Die er versäumt.

 

Die japanische Oper gestaltet nun die versäumte Gelegenheit aus zum Archetypus des "Harre sein", wie wir ihn im Westen von Solveig in "Peer Gynt" und vom dritten Akt "Tristan" her kennen, und dieses Eingedenk-Sein und -Bleiben entwickelt aus der einfachen Grundsituation eine vielfach verschachtelte, hoch faszinierende Philosophie von Zeit und Ewigkeit, die einen kühnen, aber in sich vollkommen logischen Bogen schlägt von der Immanenz zur Transzendenz und vom individuellen Wahnsinn zur allgemein gültigen Kunst.

 

In der Oper wird das zur Anschauung gebracht, indem eine Videokünstlerin ihre Reflexionen in Form symbolstarker Projektionen auf drei vielfach gebrochene Leinwände wirft. Das Objekt ihrer Liebe – eine geistesgestörte Geisha, die an den Moment der versäumten Gelegenheit fixiert bleibt – wird damit vom Liebesobjekt zum Gegenstand, zum Ästhetikum, zum Püppchen von unzerstörbarer, aber auch unerreichbarer Schönheit.

 

Für dieses ambivalente und gerade dadurch packende Ineinander­verschlingen von Sich-Geben und Sich-Entziehen, Haben und Sein hat Toshio Hosokawa eine Musik geschrieben, die mit dem langsamen Strömen von liegenden und gleitenden Tönen an die legendären Kompositionen Giacinto Scelsis erinnert, der als Schüler Respighis, Castellas und Schönbergs stark von fernöstlicher Philosophie und Religion geprägt wurde und eine Reihe von Werken schrieb, die nur auf einem Ton und seinen sinfonischen Verwandlungen beruhen. So gehen die Einflüsse hin und her.

 

Das Berner Symphonieorchester setzte Toshio Hosokawas meditative Partitur hellwach und engagiert um bis in die feinsten, dem Ohr aber wegen des Grundrauschens entzogenen Abstufungen, sicher geführt von der gelassenen, grossflächig disponierenden Schlagtechnik des souveränen Chefdirigenten. Kevin John Edusei liess beim Schlussapplaus – in der Oper sonst nicht üblich – zu recht Instrumentengruppen und Solisten nacheinander aufstehen und den Beifall entgegennehmen, zusammen mit den Sängern Yun-Jeong Lee, Claude Eichenberger und Robin Adams, die vom Publikum – auch vom Teil, der mittlerweile erwacht war – lang und herzlich gefeiert wurden.

 

Das sehr junge Regieteam wird vermutlich in zehn Jahren einiges anders machen. Die Aufteilung des Raums, die Logik der Bewegungen, die Führung der Figuren könnte differenzierter, fliessender, evidenter ausfallen. So ist zu hoffen, dass die Oper auf den abendländischen Spielplänen bleibt, damit sich in zehn Jahren Gelegenheit bietet, sie wieder zu sehen.

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