Die Wärme sollte kälter und die Kälte wärmer sein. Uraufführung mit Texten von Robert Walser.

Schauspiel.                  

Deborah Epstein, Florian Barth. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 30. April 2016.

 

 

Der Räuber kann sich jede nehmen, die er will. Sagt er. Aber stimmt das auch? Wir haben nur seine Worte. Aber sind es wirklich seine Worte? Oder sind es nicht vielmehr die des Schriftstellers Robert Walser, der "er" sagt, wo er "ich" meint? Und wenn er sagt: "Er tut", meint er vielleicht: "Ich wollte, ich täte." Oder: "Es wäre gut, wenn man könnte." Oder vielleicht auch: "Gut, tut nur er das, und nicht ich." – Gegenüber dem Gesagten ist, wie sich zeigt, auf jeden Fall Vorsicht geboten. Dass das Dargestellte bloss als Versuchsanlage aufzufassen sei, drückt die Schauspielsparte von Biel/Solothurn durch den Untertitel aus. Es handelt sich an ihrer Uraufführung "nach dem 'Räuber'-Roman von Robert Walser" um "eine Untersuchung über die Wahrheit auf dem Theater".

 

Dabei erweist sich der postume Text des Dichters der Dichter (und ihrer Gesellen) als deutschschweizerisch-skurrile Arabeske zum Brief des Lord Chandos, mit dem Hugo von Hofmannsthal 1902 für die Literatur des 20. Jahrhunderts auf einen Schlag das Schreiben übers Schreiben zum Thema machte: "Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören, wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist im Hinabsinken. Dies alles schien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: So wie ich einmal in einem Vergrösserungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachten Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr liess sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt."

 

Deborah Epstein erzeugte in Biel/Solothurn diesen Schwindel, durch den man ins Leere kommt, mit den Mitteln des klassischen Regietheaters: Video- und Sounddesign (auch Bühneneinrichtung und Kostüme: Florian Barth), Ständermikrofone, Aufteilung der Hauptfigur auf verschiedene Sprecher, mehrstimmiger Gesang schwermütiger Volkslieder. Die Inszenierung stellte damit unter Beweis, dass man die dominierende Regiesprache am Jurasüdfuss auch beherrscht und aktzentfrei nachsprechen kann, wenn die Verwendung des Idioms der Sache angemessen ist.

 

Um Walsers Mikrokosmos unter verschiedenen Perspektiven in Erscheinung treten zu lassen, gehen Deborah Epstein und ihre sechs Darsteller sensibel, achtsam und sorgfältig zu Werke. Ihre Erkundung führt zum paradoxen Resultat, dass die Mittel, mit denen das Theater sonst Klassiker zertrümmert, diesmal und an dieser Stelle den Klassiker schaffen. Durch ihren spielerisch schwebenden Gestus ruft die Produktion eine Vieldeutigkeit hervor, die sich im Unbestimmbaren verliert. So endet die Vorstellung konsequenterweise nicht mit einem Schluss, sondern mit einem Fade-out. Damit kommt die "schwebende Bewegung" nicht zum Stillstand, die das Original charakterisiert. Die Beweglichkeit, erklärt Peter Utz, "bewahrt Walsers Texten Leben und Aktualität. Die Sicherheit, die sie dem Leser nehmen, geben sie ihm als 'Bewegungs­freiheit' wieder zurück. Walser schreibt die grossen Weltworte in seiner Kleinschrift nach. Im Mikrokosmos seiner Texte geraten ihre Widersprüche ins Tanzen, ihr falscher Ernst verwandelt sich in das kritische Vergnügen des Lesers."

 

In Biel/Solothurn kommt das Vergnügen des Zuschauers erst nach einem Vorspiel im Pausenbereich auf. Diese Form des Einstiegs wirkt in Solothurn gleich bemüht wie in Bern bei Jelineks "Schutzbefohlenen". Diesmal aber ist sie einer technisch-dramaturgischen Notwendigkeit geschuldet, die sie rechtfertigt: Es geht nämlich, so ist zu vermuten, darum, die Menge der Zuschauer zu bündeln, damit alle unter Anleitung der Inspizientin Lea Heinz-Erian im selben Moment ihre Kopfhörer aufsetzen und das Handy "wirklich abschalten, und nicht bloss auf stumm schalten". Mit dieser Massnahme wird der Hauptteil der Vorstellung sichergestellt. "Ein guter Prozess", so lehrte schon Ruth Cohn, die Begründerin der Themen­zentrierten Interaktion, "hat einen klaren Anfang und ein klares Ende".

 

Innherhalb des kopfhörer-unterstützten Teils brachten die Schauspieler im exakten Zusammenspiel einer grande complication mikroskopische Elementarteilchen wie das Abziehen einer Cervelathaut oder das Aufschäumen des Biers auf den Objektträger der szenischen Vergrösserung. ("Mein Geist zwang mich, alle Dinge in einer unheimlichen Nähe zu sehen: So wie ich einmal in einem Vergrösserungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen.") Auf diese Weise vollzog sich die "Untersuchung über die Wahrheit auf dem Theater" als faszinierende Musik-Licht-Wort-Bild-Geräusch-und-Ton-Collage. Als es dann hiess, man solle die Kopfhörer abnehmen, wirkte der dritte Teil, der an den Rand des Bleistiftgebiets führte, notgedrungen trockener und, nun ja, prosaischer.

 

An der Solothurner Premiere wurde viel gelacht. Nie war der Anlass wirklich eine Pointe. Gleichwohl fühlten sich die einen da, die andern dort gekitzelt. Andere versanken derweil in stilles Staunen und Sinnen. "Die Wärme sollte kälter und die Kälte wärmer sein" unterstrich damit das Ende der dramatischen Epoche, wo "der Dichter", wie Schiller verlangte, "unseren Empfindungsstand bestimmt". Bei der Robert-Walser-Adaptation am Jurasüdfuss wird jeder auf seine Fasson selig.

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