Das Tagebuch der Anne Frank.

Schauspiel.                  

Jennifer Wigham, Janine Fischer, Marcel Zaes. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. März 2016.

 

 

Vielleicht würde Annelies Marie Frank, geboren in Frankfurt am Main am 12. Juni 1929 und gestorben im Konzentrationslager Bergen-Belsen im März 1945, heute noch leben, wenn der Weihnachtsmann in die Geschichte eingegriffen hätte. Als sie ein Jahr alt war, druckte jedenfalls "Die neue Weltbühne, Wochenzeitschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft (La Nouvelle Revue Mondiale)" einen "Brief an den Weihnachtsmann" ab: "Lieber guter Weihnachtsmann, weisst du nicht, wies um uns steht? Schau dir mal den Globus an. Da hat einer dran gedreht. In den Strassen knallen Schüsse. Irgendwer hat uns verhext." Damals, 1930, als Anne Frank ein Jahr alt war, steigerte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Zahl ihrer Abgeordneten im Reichstag von 12 auf 107. Am 1. Dezember ernannte Reichspräsident Hindenburg Heinrich Brüning erneut zum Kanzler. Der versuchte mit einer deflationistischen Wirtschaftspolitik die Einstellung der Reparationszahlungen zu erreichen und die Gewerkschaften zu schwächen. Dafür nahm er eine Steigerung der Arbeitslosigkeit in Kauf. Ende Dezember gab es in Deutschland bereits 4,4 Millionen Arbeitslose. "Ziehe denen, die regieren, bitteschön, die Hosen stramm. Wenn sie heulen und sich zieren, zeige ihnen ihr Programm", stand damals im "Brief an den Weihnachtsmann", den "Die neue Weltbühne" veröffentlichte. "Und nach München lenk die Schritte, wo der Hitler wohnen soll. Hau dem Guten, bitte, bitte, den Germanenhintern voll!" - Vielleicht würde Anne Frank heute noch leben, wenn der Weihnachtsmann in die Geschichte eingegriffen hätte: "Komm, erlös uns von der Plage, weil ein Mensch das gar nicht kann. Ach, das wären Feiertage! Lieber, guter Weihnachtsmann..."

 

Die kindliche Bitte aber, der Erich Kästner die Feder geliehen hatte, blieb unerfüllt. Und so emigrierte die hellhörige Familie Frank bereits drei Jahre später nach Holland. Hitler hatte am 30. Januar 1933 nach seiner Vereidigung begonnen, durch eine Kaskade von Gesetzen Parlament, Parteien und Gewerkschaften auszuschalten.

 

  1. März 1933: "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und
                    Reich" ("Ermächtigungsgesetz")
  1. März 1933: "Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der
                    Länder mit dem Reich"
  1. April 1933: "Gesetz zur Gleichschaltung der Länder
                    mit dem Reich"

   ab Mai 1933:  Auflösung der Gewerkschaften, Verbot der
                SPD und KPD

  1. Dezember 33: "Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei
    und Staat" – Die NSDAP wurde Staatspartei.

 

Was darauf folgte, hat sich unauslöschlich in die Geschichte eingeschrieben. Die Familie Frank aber musste in Amsterdam untertauchen und sich von 1942 bis 1944 in einem Versteck verborgen halten.

 

Zu der Zeit entstand das in niederländischer Sprache abgefasste "Tagebuch der Anne Frank", in dem das 13jährige Mädchen die äusseren und inneren Ereignisse festhielt. Beeindruckend sind der Takt, die Aufrichtigkeit, das Ethos und die Gabe der Selbstreflexion dieser Heranwachsenden, aus der es etwas hätte geben können und die vielleicht heute noch lebte, wäre es ihr vergönnt gewesen, aus ihrem Loch herauszukommen: "Viele Menschen lieben die Natur, viele schlafen einmal unter freiem Himmel, viele in Gefängnissen und Krankenhäusern sehnen den Tag herbei, an dem sie wieder die freie Natur geniessen können, aber wenige sind mit ihrer Sehnsucht so abgeschlossen und isoliert von dem, was doch uns allen, arm und reich, gehört."

 

In der Vidmar-Halle 2 von Konzert Theater Bern beschränkt sich nun die Welt von Anne Frank auf ein paar Umzugskartons (Bühne: Janine Fischer) und ein paar schwarzgerahmte Fotoporträts an der Wand, die in den Theaterraum führt. Man kommt am Bild Anne Franks vorbei, mit ihrer Schneckenfrisur und ihren grossen schwarzen Augen. Damit führt der stumme Auftritt Deleila Piaskos zu Beginn des Spiels zum Schock der Anagnorisis. Mit diesem Wort bezeichnete das antike Theater die Wieder­erkennungsszene. Und wahrhaftig, da steht sie vor uns, die kleine Anne Frank, schüchtern an die Wand gepresst, und ihre Haltung verrät, wie es in ihr wühlt und arbeitet. Aus diesem belebten Innern steigen nun die Worte auf, die sie einst dem Tagebuch anvertraute und die nun hier und heute wieder anschaulich und lebendig werden.

 

Es gelingt dem Team um Regisseurin Jennifer Wigham, den Text überzeugend in seelisch gefüllte und gefühlte Wirklichkeit hinüberzuführen, so dass die Aufführung von Anfang an durch ihre Unmittelbarkeit überzeugt und auch die Frage beantwortet, warum denn Bern "auch noch" die Anne Frank "machen" müsse: Weil Bern eben eine Anne Frank hat.

 

Die Zurückhaltung und Distinktion, durch die sich die Produktion auszeichnet, findet sich wieder in der Komposition von Marcel Zaes. Der Musiker sitzt an einem kleinen Mischpult auf der Bühne und bringt durch diskrete Betätigung von Reglern Klopf- und Kratzgeräusche hervor, die den Raum evokativ beleben, ohne je das Gesprochene platt zu illustrieren. In diesem sichtbar-unsichtbaren Mitspieler wird die stumme Gegenwart der abwesenden Wände, Türen und Möbel greifbar, die als ungerührte Zeugen dem Geschehen beiwohnen und unverwandelt zurückbleiben, als die acht versteckten Juden abgeholt und dem Tod zugeführt werden. (Wozzeck: "Warum löscht Gott die Sonne nicht aus?")

 

Zwei Umstände indes verhindern, dass die Produktion volle Eindringlichkeit entfalten kann. Zunächst die Einrichtung des Raums. Von der zweiten Zuschauerreihe an wird die Sicht durch die Davorsitzenden so verstellt, dass man Anne Frank nicht mehr sieht, sobald sie niederkauert. Das beschädigt mehrere Momente und reisst als ungewollter Verfremdungseffekt die Zuschauer aus der Teilnahme am Spiel heraus. Zweites Handikap: Deleila Piasko, diese starke Darstellerin, hat eine S-Schwäche. Bei allen Wörtern, in denen ein S oder Z vorkommt, ist die Artikulation mangelhaft. "Herr Kollege", wurde ich beim Hinausgehen gefragt, "haben Sie auch nichts verstanden? Ich glaube, ich muss zum Ohrenarzt!" – "Ich war beim Ohrenarzt und kann Sie beruhigen. Es liegt nicht an unseren Ohren, sondern an der Zunge der Schauspielerin." Lieber, guter Weihnachtsmann...

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0