Das Versprechen. Friedrich Dürrenmatt.

Schauspiel.                  

Niklas Ritter, Bernd Schneider, Tillmann Ritter. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. April 2016.

 

 

An der Deuxieme von Friedrich Dürrenmatts "Versprechen" ist einer krass durchgefallen: Der Kubus. Die Ersatzspielstätte, die während der Renovation des Stadttheaters den Spielbetrieb am Waisenhausplatz beherbergt, ist für feine Theaterformen unbrauchbar. Niklas Ritters gescheite, sensible und humorvolle Produktion aber ist leider (hätt' ich beinah gesagt) eine feine Theaterform. Und darum mischt sich die Berner Aussenwelt so unvorteilhaft in ihre delikate Erzählweise ein. Das Dröhnen der anfahrenden Boliden, sobald die Ampel an der Schütte­strasse/Hodlerstrasse auf Grün schaltet; das Johlen herumziehender Jugendbanden; das Wummern der Bässe in einem offenen Cabrio; das Kreischen und Lachen aufgekratzter Girls; der Schlag einer Uhr, deren Glocken alle Viertelstunden vernehmlich werden – sie halten in ihrer Ballung den Intellekt des Zuschauers unablässig (und überflüssig) auf Trab. Immer wieder wird er aus der Versenkung gerissen und vor die Frage gestellt: Gehört dieses Geräusch zum Stück? Und diese Klänge da, sind sie Teil des Soundtracks (musikalische Leitung Tillmann Ritter) oder muss ich sie ignorieren? Wenn Britta Sweers, die Professorin für Musikethnologie, nicht eine ganze Geräuschkarte, sondern bloss ein Geräuschinventar für Bern aufnehmen würde, wäre der Katalog in zwei Stunden erstellt, wenn sie sich mit ihren Studenten einen Abend lang in den Kubus setzte.

 

Bei jedem Klang jedoch, der sich durch Nachdenken und Analyse als von aussen kommend und damit irrelevant erweist, sehnt man sich hinüber in die abgeschirmte Welt der Vidmarhallen in der Könizer Pampa, weit weg vom Schuss hinter "Fressnapf" und "Tauchsport Käser". Denn für alle feinen Theaterformen ist der Kubus eine Katastrophe.

 

Man hätte es wissen können, hätte man Schopenhauer gelesen: "Die verständigste und geistreichste aller europäischen Nationen hat die Regel 'Never interrupt' – 'Du sollst niemals unterbrechen' – das elfte Gebot genannt. Der Lärm aber ist die impertinenteste aller Unterbrechungen, da er sogar unsere eigenen Gedanken unterbricht, ja zerbricht. Wo jedoch nichts zu unterbrechen ist, da wird er freilich nicht sonderlich empfunden werden. – Ich hege wirklich längst die Meinung, dass die Quantität Lärm, die jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältnis zu seinen Geisteskräften steht und daher als das ungefähre Mass derselben betrachtet werden kann. Wenn ich daher auf dem Hofe eines Hauses die Hunde stundenlang unbeschwichtigt bellen höre; so weiss ich schon, was ich von den Geisteskräften der Bewohner zu halten habe."

 

Gegen solch unselige Bedingungen muss sich also Niklas Ritters feine Produktion behaupten. Bis zur Pause gelingt es ihr nicht – eben weil sie fein ist. Wenn aber Störung zu Ablenkung führt, vollzieht der Zuschauer das Geschehen nur noch intellektuell. Wie schon Brecht wusste, verhindert jedes Setzen von Verfremdungseffekten (auch unfreiwilligen) das Aufkommen von "Sog".

 

Schon am Anfang, wenn das Licht ausgeht und es still wird in den Zuschauerreihen, werden die leisen Klänge der Inszenierung (oder kommen sie von aussen?) vom Surren der Scheinwerfer-Ventilatoren zugedeckt. Trotzdem erkennt man bereits, dass sich Niklas Ritter und sein Ausstatter (Bernd Schneider) etwas gedacht haben: Die Anlage der Bearbeitung ist nämlich zyklisch. Der Anfang nimmt das Ende vorweg. Der pensionierte Kriminalbeamte Matthäi (Jürg Wisbach), der einen präsumtiven dreifachen Kindsmörder zur Strecke bringen möchte, wartet immer noch, bärtig, alt und verwahrlost, auf den Verbrecher, wie Becketts Landstreicher auf Godot. Und am Ende der Aufführung, wo es nicht zu Abschluss, Abrundung und finaler Gerechtigkeit kam, verschmilzt Matthäi mit dem Mörder, in den er sich so lange hineinsinniert hat. Unversehens werden so die Grenzen zwischen Verbrechen und Strafe durchlässig – eine dialektische Pointe höherer Observanz.

 

Nach blitzschnellem Kostümwechsel auf der Bühne spult das Spiel an den Anfang der Ereignisse zurück, wo dem acht­jährigen Gritli Moser im verschneiten Wald die Kehle mit einem Rasiermesser durchgeschnitten wird. Weiss und Rot kommen da schon zusammen wie im Märchen, und der Inszenierung gelingt es, unter augenzwinkerndem Zitieren der Krimiklischees die psychotische Welt der Alpträume als lockenden Abgrund links und rechts neben der Handlung mitlaufen zu lassen, so dass sich die Konzepte von Vernunft und Aufklärung (hier in der Aufklärung eines Mordfalls) als brüchiger, kaum tragfähiger Boden erweisen.

 

Nach 35 Spielminuten, kurz vor der Pause, ist die Exposition zuende erzählt. Und da erst fällt der Vorhang nieder und gibt den Blick aufs Bühnenbild frei. Zuvor wurde auf der Vorbühne gespielt; das Team hatte nämlich den Terminus der Exposition (das heisst: "Aus-stellung") wörtlich genommen und mit dieser ironischen Anlage bereits ein erstes Mal seine intellektuelle Überlegenheit unter Beweis gestellt. Nun entdecken wir die halbversunkene Tankstelle, in der Matthäi auf den Mörder warten wird, in einer gefrorenen Welt, die Caspar David Friedrichs grosses Ölgemälde "Eislandschaft" (1823/24) zitiert, das unter dem für die Aufführung aussagestarken Titel "Die gescheiterte Hoffnung" ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist.

 

1927 trug der englische Romanautor Edward Morgan Forster auf Einladung des Trinity Colleges der Universität Cambridge eine wegweisende Studie zur Romanästhetik im englischen Sprachraum vor. Darin unterschied er zwischen "flachen" und "runden" Charakteren. Es ging ihm dabei um die Unterscheidung zwischen starren, berechenbaren Figuren und unberechenbaren, dynamischen Individuen. Beide haben ihre Berechtigung, und alle bedeutenden Werke, die erzählenden wie die dramatischen, bringen ein Gemisch der beiden Arten. Die flachen Charaktere indes eignen sich besser für komische Konstellationen, die runden besser für tragische.

 

Flache und runde Charaktere prägen nun auch die Bühnenversion von Friedrich Dürrenmatts "Versprechen", und alle sind hervorragend besetzt. Das Berner Schauspiel kann sich sehen lassen. Denn seine Mitglieder erfüllen die zentrale Anforderung an eine künstlerisch gehaltvolle Darstellung. Der Westschweizer Romanautor Roland Donzé kleidete sie in die Frage: "Est-ce que les personnages sont vivants?" Sie sind es, ausnahmslos. "Das Versprechen" wäre würdig, in Vidmar 1 zu laufen.

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