Der Menschenfeind. Molière.

Komödie.                  

Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 31. Oktober 2015.

 

 

Gespielt wird bei offenem Vorhang. Während sich der Saal füllt, humpelt schon ein uralter steifgliedriger Diener über die Bühne, die Beine weit abgespreizt und die Wirbelsäule gekrümmt wie ein C. Er kann den Kopf nicht mehr heben, sein Blick klebt an einem Silbertablett, das er später bei seinen Auftritten als Running Gag immer wieder dem Menschenfeind in den Rücken stossen wird, so dass dieser umfallen wird wie ein Dominostein, um dann, als wäre nichts geschehen (das ist im Schwank so üblich), wieder aufzustehen und weiterzusprechen. Damit ist die Tonart angeschlagen, in der sich Molières Komödie abspielen wird: Antirealistische, groteske Figurenzeichnung, Absonderlichkeit in Gestalt und Gebärde, Bizarrerie.

 

So karikaturesk wird denn auch Alceste, der Menschenfeind, angelegt. Noch bevor man ihn sieht, hört man ihn bereits schimpfen, und wenn er auftritt, zeigt er sich als hocherregter, seiner kaum mächtiger Sonderling, das Opfer von Hass (gegen die Menschen) und Liebe (zu Célimène). Die Darstellung von Tim Mackenbrock ist überzeichnet – über­zeichnet wie die Verachtung, die Alceste gegen die Schmeichler, die Heuchler, die Angepassten, die Geschmeidigen, die Eingebildeten, die Schleimer und Lügner hat. "Für Molière", erklärt die französische Literaturgeschichte, "war jeder ein störendes Element im Sozialgefüge, der sich den Geboten von Vernunft und Mass nicht unterwarf, der die Anstandsregeln und gesellschaftlichen Konventionen nicht respektierte, und so wurde er durch seine Vorurteile, seine Sturheit und Voreingenommenheit zur lächerlichen Figur." Und so eine lächerliche Figur sehen wir jetzt in Biel-Solothurn auf der Bühne, genau 350 Jahre nach der Uraufführung in Versailles, wo die Komödie vor Ludwig XIV. durchfiel. Als der Literaturkritiker Nicolas Boileau-Despréaux, "von Ludwig XIV. gefragt wurde, wer der wertvollste Dichter des Zeitalters sei, antwortete er: 'Majestät, das ist Monsieur Molière.' 'Das hätte ich nicht gedacht', erwiderte der König, 'aber Sie müssen es ja besser wissen." (Egon Friedell)

 

Wir befinden uns in der ersten Szene des ersten Akts. Oben am Bühnenrahmen zeigt eine Leuchttafel die Zahlen "1.1", die Nummer des Auftrittsgesprächs, in dem Alceste seinem Freund Philinte darlegt, warum er sich berechtigt sieht, toben zu dürfen: Vor Gericht läuft sein Prozess schlecht, ein Zeichen, dass es keine Gerechtigkeit gibt auf der Welt; ein Grund mehr, die Menschen zu hassen. Dabei schlägt sich Alceste mit seinem weiten, schwarzen Umhang so selbst­gerecht an die Brust, dass es knallt. Das Publikum antwortet mit einem ersten Lacher.

 

Als Hauptdarsteller wird Tim Mackenbrock die überdrehte Spielweise nicht mehr verlassen bis weit nach der Pause bei "4.3", wo Alceste in berührend schlichtem Ton gesteht, wie wichtig ihm die Zuneigung der Angebeteten ist. Dann aber fällt er zurück ins groteske Gezappel, und für den nachdenklichen Zuschauer bleibt die Frage im Raum, ob diese Interpretation Molière - und der Figur - angemessen sei. Elisabeth Brock-Sulzer hätte dagegen gestimmt: "Gerade uns Menschen deutscher Sprache macht es Mühe, den Misanthrop lächerlich zu finden, unsere Sympathie fliegt ihm zu", stellte sie fest.

 

Und Brecht kam vor der Frage: "Wie soll man Molière spielen?" zum Schluss: "Das Spiel in vollkommenem Ernst, das heisst, diese Gesellschaft nimmt sich verteufelt ernst." Für Brecht war klar: Erst, wenn der Rahmen des Ernsts gezogen ist, fallen die Masslosen heraus, die Geizigen, die Selbstgerechten, die Frömmler, die Hypochonder, die Erotomanen.

 

In Biel-Solothurn jedoch werden alle Männerfiguren nach dem Muster des Schwanks gezeichnet, mit Ausnahme des vernünftigen Philinte (schön zurückhaltend dargestellt von Jan-Philip Walter Heinzel), und der Erfolg, den dieses Konzept an der Premiere findet, beweist: Molière "musste mit Schablonen malen, weil es die Kundschaft so wünschte" (Egon Friedell). Grotesk also auch Oronte. Wie er auftritt, prusten bereits einzelne los. Diese Rüschen und Bänder, diese Federn und Locken – sie entsprechen der Schablone des selbstverliebten, eingebildeten Dichters. Innerhalb dieser Grenzen gestaltet Mario Gremlich ein sprachlich fein abgestuftes, gestisch hochkontrolliertes Porträt, und es ist ihm zuzutrauen, dass er die Figur auch ganz anders geben könnte, wenn man ihn liesse, nämlich ernsthaft. "Es ist ein Irrtum zu glauben, Oronte sei ein Dummkopf gewesen, und ihn so zu spielen", erklärte der französische Komödiendichter Jean Anouilh in der Comédie Française an einer Rede zu Molières Geburtstag: "Vermutlich wirkte in der Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts Oronte verständiger und vielleicht sogar intelligenter als Molière. Aber Sie sehen, wohin ihn das geführt hat: Seit drei Jahrhunderten lachen an jeder Familienvorstellung die Schüler über ihn."

 

Noch mehr zu lachen gibt in Biel-Solothurn das Paar Acaste-Clitandre. In schrullig aufgedonnerten Kostümen, die am Tuntenball den ersten Preis bekämen, malen Lou Elias Bihler und Dimitri Stapfer mit breitem Pinsel das Bild männlicher Diven, während die Frauen zurückhaltend in Aquarelltönen gehalten sind. So gibt Natalina Muggli das feine Porträt einer jugendlichen Naiven (Éliante), und mit ihrer Zurückhaltung gelingt es Barbara Grimm, der Darstellung einer komischen Alten die unheimlichen, krokodilhaft lauernden Züge der Intrigantin beizumischen. Die muntere Liebhaberin (so hiess seinerzeit das Fach, aus dem die Rolle der Célimène besetzt wurde), wirkt über weite Strecken glaubhaft, wenn sie auch Atina Tabé eine Spur zu besonnen gibt, so dass man ihr die vier Verleumderbriefe am Ende nicht recht zutraut, mit denen sie ihre Verehrer angeschwärzt hat.

 

Nach der Pause geht das Stück nicht weiter. Sondern gezeigt wird ein Zwischenspiel, betitelt mit "Probe", und inspiriert von Molières "Impromptu de Versailles". Gezeigt wird, wie der Dichter mit seiner Truppe ein neues Stück erarbeitet. Die Situation in Versailles gleicht der am Jurasüdfuss, vor allem nach den vor einem Monat gefällten Sparbeschlüssen des Bieler Stadtrats. Das Intermezzo bringt funkelnde, mehrschichtige, rasante Komik, bis es heisst: "Spielen wir weiter! Die beiden letzten Akte des 'Menschenfeinds'."

 

Nun kommt es, in der alten, bizarren Spielweise, zur raschen Auflösung, die zur Verheiratung führt, aber nicht – wie sonst bei Komödien üblich – in Form einer Doppelhochzeit, sondern bloss zum Bund eines Paars, und zwar des "falschen", das heisst in Wirklichkeit des "richtigen", nämlich des Paars der Vernünftigen (Philinte-Éliante), während das "richtige", in Wirklichkeit aber "falsche" Paar (Alceste-Célimène) von Molière mitleidlos denunziert und auseinandergetrieben wird.

 

Im "Menschenfeind", den Daniel Pfluger inszenierte, ging also nicht alles daneben. Wohl aber die Hauptsache: Er wählte eine Darstellung der Titelrolle, die Alceste der Lächerlichkeit preisgibt. Dabei "darf er" uns "ein wenig tragisch erscheinen", fand Georg Hensel, und führte Goethes Sichtweise an: "Hier stellt sich der reine Mensch dar, welcher bei gewonnener grosser Bildung doch natürlich geblieben ist und wie mit sich, so auch mit andern, nur gar zu gern wahr und gründlich sein möchte; wir sehn ihn aber im Konflikt mit der sozialen Welt, in der man ohne Verstellung und Flachheit nicht umhergehen kann."

 

Die Theaterleitung, die eine solche Betrachtung wohl kannte, aber beiseiteschob, entschied anders. Ein junger, sehr junger Regisseur sollte, vermutlich "unbelastet" von bildungs­bürgerlichem Ballast, die Komödie mit frischem Blick "für heute" inszenieren. In Solothurn mit seiner famosen Fasnachtstradition ging die Rechnung an der Premiere glänzend auf. Alle jubelten, bis auf wenige. Und die zählen nicht.

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