Anna Bolena. Gaetano Donizetti.

Oper.

Giancarlo del Monaco. Bregenzer Festspiele.

Radio DRS-2, Reflexe, 23. Juli 1986.

 

 

(Musik)

 

Die Wahnsinnsarie der Anna Bolena, hier in Bregenz gesungen von Katja Ricciarelli.

 

(Musik)

 

Die Wahnsinnsarie der Anna Bolena in dieser Oper von Gaetano Donizetti war – nach der Uraufführung von 1830 – eine der attraktivsten Szenen der italienischen Oper. Das genau fünf Jahre lang. Dann schrieb Vincenzo Bellini eine Wahnsinnsarie in den "Puritani", eine Umnachtungsszene, die die Geistesverwirrung der armen Anna Bolena weit in den Schatten stellte.

 

(Musik)

 

Eine Bregenzer Aufnahme von 1985, mit Editha Gruberova. Kaum aber blühte der Irrsinn in Bellinis "Puritani" – finanziell übrigens ein höchst einträglicher Irrsinn – beeilte sich Donizetti, seinen Konkurrenten mit einer noch exaltierteren Komposition zu überbieten, mit der Wahnsinnsarie in "Lucia di Lammermoor". Sie hören wieder eine Aufnahme von den Bregenzer Festspielen, diesmal aus dem Jahr 1982, mit Katja Ricciarelli.

 

(Musik)

 

Die Wahnsinnsarien, mit denen sich Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti zu übertrumpfen suchten, spiegeln den Kampf wieder, den sich die beiden Komponisten um die Vorherrschaft im italienischen Operntheater lieferten. Grossmeister Rossini, unangefochtener "Primo compositore", hatte sich 1829 mit "Wilhelm Tell" vom Geschäft zurückgezogen und das Opernkomponieren aufgegeben. Damit wurde das Feld frei für den Wettbewerb um seine Nachfolge, ein Wettbewerb, den Donizetti 1830 mit "Anna Bolena" gewann, bis sich der Sieg 1831 mit "Norma" wieder Bellini zuwandte; doch dann holte sich Donizetti mit dem Schauerdrama "Lucia di Lammermoor" den ersten Rang wieder zurück.

 

Sie sehen also: Die Entstehung dieser Oper verdanken wir nicht nur musikalischem Genie und künstlerischer Rastlosigkeit. Sondern es ging bei der Produktion der "Anna Bolena", der "Norma", der "Sonnambula", der "Lucia" etc. auch und vor allem – um Ansehen, um Rangstreitigkeiten und ums grosse Theatergeschäft: ums Geld. – Der ökonomische Konkurrenzkampf erklärt die hektische Entstehung der Werke; und die hektische Entstehung wiederum erklärt, warum jedes, für sich genommen, nur relativen Wert hat. Als Donizetti nämlich mit 33 Jahren an die Abfassung der "Anna Bolena" ging, hatte er schon 34 Opern geschrieben. 34 Opern; im Alter von 33 Jahren. Und die 35. Oper, "Anna Bolena", schrieb er in zwei Monaten. Die Musikgeschichte sagt, Donizetti habe hier den Übergang zu einer individuelleren, typischeren Ausdrucksweise als in den früheren Werken erreicht. Nach 34 Opern, fast alle nach der Schablone, nähert sich der Komponist also – in Graden – einer eigenen Musiksprache. Der Ausdruck wird expressiver, die Arien versuchen, seelische Empfindungen nachzuzeichnen.

 

(Musik)

 

Wir haben hier eine der grossen Szenen. Zwei Soprane, in Bregenz Katia Ricciarelli und Stefania Toczíska, zwei Soprane wetteifern miteinander um Krone und Macht. Und dieser Weiberkampf hat das Publikum noch allemal entzückt. Damals in Mailand so gut wie gestern in Bregenz.

 

(Ton)

 

Die Sänger wurden an der Eröffnungspremiere mit Ovationen überschüttet. Die Festspielleitung hatte ja auch absolute Spitzenkräfte engagiert, wie Francisco Araiza und Jewgenij Nesterenko bei den Männern, eine Politik, die sich in rauschendem Erfolg auszahlte. Aber dieser sängerische Triumph konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Anna Bolena" eine Oper ist, die das Theater eigentlich nicht braucht. Alle ihre Reize liegen in der Musik; die szenische Aufführung kann dem nichts hinzufügen, eine Inszenierung von "Anna Bolena" also ist eigentlich überflüssig. Das musste auch Giancarlo del Monaco erfahren, als er vor den Vorhang trat.

 

(Ton)

 

Ein ungerechtes Buh. Denn Giancarlo del Monaco hat das Steharienprinzip der Oper respektiert und nichts getan, um die Aufmerksamkeit vom Gesang abzuziehen. Sondern wir sitzen alle da, im Festspielhaus, und konzentrieren uns auf die Töne, die die Stars produzieren.

 

(Musik)

 

Und auf der Bühne sehen wir vier Ränge eines Logentheaters nachgebaut, gefüllt mit Zuschauern wie wir, die ebenfalls im Bann des Gesangs stehen. Das Publikum also blickt auf die Bühne und erblickt dabei sich selbst. Das ist die Regieidee von Giancarlo del Monaco. Er macht damit durchsichtig, dass der Voyeurismus das Grundprinzip des Theaters ist. Wir sind Voyeure, wenn wir die Intrige, die Seelenpein und den Zusammenbruch der Anna Bolena einschlürfen. Voyeurismus als Grundprinzip des Theaters – das ist sehr klug. Nur eben. Bei "Anna Bolena", diesem Belcanto-Schinken, gibt es nichts zu sehen. Und das macht die Oper fürs heutige Theater so uninteressant. Auch in Bregenz.

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