Gespenster. Henrik Ibsen.

Schauspiel.

Alex Freihart, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 7. Februar 1978.

 

 

Alle, die da fallen...

 

Der Bühnenbildentwurf von Edvard Munch aus der Basler Kunstsammlung, den das Programmheft schwarzweiss abbildet, ist in Wirklichkeit in differenzierten Brauntönen gehalten; eine warme, einladende Atmosphäre strahlt daraus hervor. Aber die drei Menschen, die sich in diesem behaglichen Zimmer aufhalten, gleichen länglichen, unbewegten Schatten. Durch die unnatürliche Distanz, die sie voneinander trennt, entsteht qualvolle Spannung.

 

Damit gibt die Skizze wieder, was Ibsens Stück zu einem der grauenvollsten der gesamten Theaterliteratur macht: das Entsetzen über die Abgründe in der menschlichen Seele.

 

In Karl Weingärtners Bühnenbild für das Städtebundtheater herrschen die grauen Töne. Ungemütlichkeit und Frösteln sind die Empfindungen, die sie auslösen. Vergebens hält man Ausschau nach kleinen Dingen, die den Raum bewohnt wirken lassen. Bücher, Zeitschriften und Zeitungen (wie Ibsen verlangte) liegen nicht auf dem Tisch, Blumen und Pflanzen fehlen, ebenso das Nähtischchen, das mit seinen bunten Stoffresten Häuslichkeit evozieren könnte.

 

Karl Weingärtner hat ein Gespensterhaus aufgebaut, das von Anfang an als solches zu erkennen ist. Und das hat Folgen. Denn damit geht nicht nur der Kontrast verloren zwischen dem freundlichen Zimmer und seinen unheimlichen Bewohnern, sondern dem Zuschauer wird die Möglichkeit genommen, sich über die wahre Lage zu täuschen. Der Erkenntnisvorgang, den Ibsen kunstvoll anlegte, nämlich die Ent-täuschung über die Familie Alving, findet szenisch keine Entsprechung mehr.

 

Wenn Enttäuschung stattfinden soll, muss man sich zuerst geirrt haben. Die Menschen auf der Bühne müssten zu diesem Zweck zwei Gesichter zeigen, ein gespieltes und ein wahres. Bei den "Gespenstern" ist das der Fall, und dadurch wird das Drama so niederschmetternd. Denn hier bleibt kein Mensch integer. Alle, ausnahmslos alle, fallen im Verlauf des Stücks. Und die Wahrheit, die sie dabei enthüllen, ist schrecklicher als die Lüge vorher.

 

So entpuppt sich der ehrenfeste Pastor Manders als Brandstifter. Und der fromme Engstrand als schäbiger Erpresser. Die dienstwillige, flinke Regine wird zum herzlosen, berechnenden Weib. Und die weitherzige, sozial aufgeschlossene Frau Alving zur herrschsüchtigen, sadistischen Egoistin.

 

Dabei fängt das Stück ganz unscheinbar an. Die Leute sind von vertrauenerweckender Beschränktheit, und wohin man blickt, sieht man Positives: Der Sohn ist nach jahrelanger Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt; das Hauptmann-Alving-Kinderheim soll morgen eröffnet werden; der Tischler Engstrand hat endlich genug gespart, um sein lang erwünschtes Seemannsheim zu errichten...

 

Aber wer steht, sehe zu, dass er nicht falle. Je erhabener die Maske, desto tiefer der Sturz.

 

Nun hat, wie beim Bühnenbild, Alex Freiharts Inszenierung auf den Sturz verzichtet. Das bedeutet: der Schluss des dritten Akts bleibt weg, wo der Regen aufhört und die Sonne über Osvalds unrettbarem Wahnsinn aufgeht. Das bedeutet aber auch, dass vom ersten Moment an das Zwielichtige der Figuren erkennbar ist.

 

Für den ersten Akt hat dieses Konzept eine verblüffend starke Wirkung. Was sich gedruckt wie oberflächliches Geplauder liest (und damit die Täuschung herstellt), ist nun vollgeladen mit Spannung. Zudem spielen die Schauspieler derart nuancenreich, und die Blicke, Gebärden, Gänge und Pausen sind derart sorgfältig eingesetzt, dass der erste Teil der Aufführung durch seine Dichte zu den Spitzenleistungen der Ära Freihart gezählt werden muss.

 

Aber mit dem dramaturgischen Gewinn für den ersten Akt werden für die beiden restlichen schwere Nachteile eingehandelt. Denn dadurch, dass man die Menschen von Anfang an als Gefallene darstellt, ist keine Entwicklung mehr möglich. Damit das Stück nicht an Interesse verliert, lässt Freihart deshalb die Schauspieler im zweiten Teil massiv aufdrehen. Dadurch gehen Differenziertheit und Kontrolle verloren; an die Stelle des seriösen, feinnervigen Spiels tritt hohles Theaterpathos.

 

Der falsche Ton kommt genau in jenem Moment in die Aufführung, wo Ernst Jenni zu seinem ersten grossen Auftritt ausholt. Er möchte einen Osvald zeigen, den namenlose Angst gepackt und aller Selbstkontrolle beraubt hat. Mit Schnauben und Schreien bäumt sich sein junges Leben gegen den Wahnsinn auf, der näherschleicht. Aber das Ganze wirkt stets gespielt. Wahrscheinlich hätte Jenni den Zuschauer stärker gepackt, wenn er versucht hätte, gebändigtes, gewissermassen unterirdisches Grauen darzustellen.

 

Leider konnte sich Gerda Zangger Jennis Einfluss nicht ganz entziehen. Ihre Frau Alving wurde im zweiten Teil ebenfalls lauter und, bei allem Können, eine Spur zu outriert. Die grossen Augenblicke in Frau Zanggers Spiel sind deshalb im ersten Teil zu suchen. Vor allem da, wo sie die "Gespenster" vernimmt. Mit weit aufgerissenen Augen fällt sie in Erstarrung und versucht dann durch grosse, fahrige Bewegungen das Unheil abzuwenden, das sie im Innersten getroffen hat.

 

Michael Ogilvie als Engstrand und Winfried Görlitz als Pastor Manders haben sich spürbar bemüht, ihre Figuren in den Griff zu kriegen. Dass ihnen das Dämonische abgeht, tut der Leistung als solcher keinen Abbruch, hilft aber zusätzlich, das Familiendrama zu verflachen. Ihnen gegenüber fiel Eleonore Bürcher durch die Souveränität auf, mit der sie ihre – vielleicht etwas zu positive – Interpretation der Regine vertrat.

 

Im ganzen also: ein zwiespältiger Abend. Im zweiten Teil Theater, das man überwunden glaubte. Im ersten aber jene Seriosität und Detailpflege, an denen das Städtebundtheater schon seit geraumer Zeit baut. Hoffen wir, dass die kommenden Produktionen weitere Fortschritte in dieser Richtung bringen.

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