Till Eulenspiegel. Centre Dramatique de Courneuve.

Szenische Collage.                  

Rudolf Kautek, Karl Weingärtner, Michaela Mayer. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 25. Oktober 1978.

 

 

Ein Höhepunkt!

 

Es soll Leute gegeben haben, die den Besuch der Aufführung ablehnten und als Grund ausführten, "Till Eulenspiegel" hätten sie seinerzeit als Kind gelesen, das genüge. Wenn die Collage vom Centre Dramatique de Courneuve tatsächlich nichts anderes wäre als eine dramatisierte Kindergeschichte, dann hätten diese Leute möglicherweise recht.

 

An der Premiere zeigte sich jedoch, dass "Till Eulenspiegel" wie selten ein Stück vom Theater her gedacht und aufs Theater hin gemacht worden ist. Und was das Kindliche angeht, so ist wohl das Ganze aus spielerischer Phantasie heraus entstanden. Aber ohne ausgereiften Kunstverstand hätten Stück und Aufführung jene Schönheit und Eindringlichkeit nicht erreicht, die den Abend als Höhepunkt am Städtebundtheater erscheinen lassen. Bilder prägten sich ein, von solcher Zartheit und Poesie, wie sie auf der Bühne des Städtebundtheaters noch nie in derartiger Fülle zu sehen waren.

 

Es gab Szenen von Pathos und Dramatik und solche von hohem komischem Reiz, daneben wieder lyrisch Inniges und volkstheaterhafte Derbheit. Zu sehen war also ein Bilderbogen, facettenreich wie das Rad der Fortuna, wo alles mitdreht und wo das oberste nach unten und das unterste nach oben gekehrt wird.

 

Eines der Bilder zeigt nichts anderes als Krüppel, die sich hinkend und kriechend in einem jämmerlichen Zug über die Bühne bewegen. Das ist der eine Pol der Collage: die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des niederländischen Freiheitskriegs im 16. Jahrhundert.

 

Ein anderes Bild führt in den Wald. Till und seine Verlobte locken mit einer Flöte die Vögel an. Das ist der andere Pol: der Traum. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Stück; zwischen dem Traum von einer Welt ohne Gewalt, voller Schönheit, und zwischen der Wirklichkeit von Not, Hunger und Grausamkeit.

 

Was aber kittet eine Bilderfolge, die sich in solchen Weiten bewegt? Die Geschichte der Hauptpersonen? Die Geschichte der Niederlande? Die Geschichte, wie der Aufstand gegen die Besatzer erwacht? Vom Stofflichen her bestimmt. Aber das genügte nicht, um die Aufführung zusammenzuhalten. Sondern da wird etwas anderes wirksam, etwas, das man Rhythmus zu nennen pflegt.

 

Und hier liegt das erste grosse Verdienst dieser Inszenierung. Im Gefühl nämlich für den Wechsel der Töne; und das bedeutet: der ausgewogenen Abfolge erregender und entspannender Momente, dem stimmigen Wechsel von Beschleunigung und Verzögerung, von Ruhe und Bewegung. Der Rhythmus ist wohl das, was einem bei einer Aufführung am wenigsten auffällt, zumal wenn er so subtil durchkomponiert ist wie hier. Und doch spürt jeder Zuschauer seine Auswirkungen. Das Interesse wird wachgehalten, ohne dass es ermüdet, das Denken wird angeregt, doch ohne Zwang; das Zuschauen wird zur Lust.

 

Dass das Zuschauen zur Lust wird, liegt auch am Optischen. Etwa an der Gruppierung der Gestalten auf der Bühne – aber nicht nur daran. Sondern auch, und vor allem, am Licht, das die Bühne so nuanciert und sinnvoll ausleuchtet, wie man es hier nicht für möglich gehalten hätte.

 

Und die Augenlust wird genährt von den Kostümen, die, wie schon in der "Goldtopf-Komödie", Michaela Mayers feinen Sinn dafür ausweisen, wie man Kleidungsstücke zum Reden bringt, doch immer so, dass sie mit dem Schauspieler zur Einheit zusammenwachsen.

 

Das gleiche Stilmerkmal zeigt sich in der Verwendung der Requisiten, ja dem Bühnenbild (Karl Weingärtner) im allgemeinen. Dieses durch und durch theatermässige Stück wird durch den Willen zur Sparsamkeit im Theatralischen unter Kontrolle gehalten. Nichts ist ausformuliert oder gar erdrückend. Sondern stets wird gerade soviel gegeben, dass die Phantasie in Bewegung gesetzt und in eine Richtung gewiesen wird. Und darin liegt ein weiteres Verdienst dieser Aufführung.

 

Aufgehoben in diesen ausschlaggebenden Nebensachen ist das Ensemble, und nun müssten Namen kommen, denn jeder der Mitwirkenden hat seinen starken Auftritt. Aber die Qualität der Aufführung liegt nicht darin, dass sich einzelne hervortun, sondern in der Selbstverständlichkeit, mit der sie ins Ensemble zurücktreten. Und in diesem gelungenen Wechsel von Einzel- und Gruppenauftritten erweist sich, wie treffend Regisseur Rudolf Kautek die Eigenart seiner Schauspieler erfasst hat. Er stellt jeden an seinen Platz, und dadurch verwandeln sich Schwächen in Stärken; so dass sich ein stimmiger Auftritt an den andern reiht.

 

Dies stellt auch Johnny Mejts unter Beweis, der einen sehr hübschen, wendigen, intelligenten, sensiblen und hintergründigen Eulenspiegel abgibt. Sein rauhes, leicht gebrochenes Deutsch wird vom Stück her geradezu verlangt. Denn in der fremdländischen Sprache spiegelt sich überzeugend das Fremde und letzten Endes Unfassbare dieses ernsten Schalks.

 

Dazu kommt durch Eleonore Bürcher ein schöner Kontrast ins Spiel. Sie gibt Tills Verlobte nämlich ganz menschlich, anrührend, vertraut. Mit ihr bangen wir um Till, und mit ihr freuen wir uns, wenn er plötzlich auftaucht. Die Bürcher versteht es, Gefühle mit dem ganze Körper und ihren blitzenden schwarzen Augen auszudrücken, so dass man beinahe überhört, dass die Stimme in den Momenten der Begeisterung an Echtheit nicht ganz mithält.

 

Und während die Collage abläuft, spielt sich Hans-Heinrich Rüegg unvermerkt in die Herzen der Zuschauer. Als armer, verlassener Dickwanst bringt er einen dritten Ton in den differenzierten Bilderbogen: das rührend Komische, das Gewinnende und Mitleiderregende, kurz, das Herzige. - So fügt sich alles zusammen, Licht, Bild, Ensemble, Einzeldarsteller, zu einer durchdachten, stimmigen Aufführung. Ihr ist ein breiter Erfolg zu wünschen.

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