Thomas More. Robert Bolt.

Schauspiel.

Rudolf Kautek. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 21. November 1978.

 

 

Thomas More – einer, der nicht mitspielt

Beachtliche Einzelleistungen in einer uneinheitlichen Inszenierung

 

Der Thomas More von Klaus Götte ist ein schöner Mann mit einem sicheren, einehmenden Auftreten. Die Züge seines Gesichts sind interessant und verraten Klugheit. Im Umgang mit anderen zeigt sich Göttes More aufmerksam und höflich, obwohl er die Menschen durchschaut. Und so gewinnen wir den Eindruck von einem Mann, der sich in der Hand hat und sich nicht hinreissen lässt. Das aber macht ihn uns fremd; wir wissen nicht, was in seinem Innern vorgeht, es gelingt unserem Blick nicht, durch die Würde hindurchzublicken, die ihn umgibt. In ihm bleibt ein Rest an Eigenem verwahrt, den wir nur ahnen können.

 

Alle andern "spielen", und zum Teil ausgezeichnet. Winfried Görlitz etwa einen abgründigen, schlechten Charakter namens Thomas Cromwell. Hans Schatzmann den pfiffigen, sympathischen und trotzdem fragwürdigen Mann von der Strasse. Eugen Urfer einen durchtriebenen, schleimigen Diplomaten – und weil sie alle spielen, wissen wir, wie wir sie nehmen sollen und was sie vorstellen wollen. Klaus Götte jedoch "spielt" nicht. Oder muss man sagen: Thomas More "spielt" nicht? Gleichviel, einer, der nicht mitspielt, ist ein Störenfried. Denn er stellt das Verhalten aller andern in Frage. Und das macht den Konflikt unvermeidlich.

 

Entweder er gibt sich selber auf und spielt mit, oder er bleibt sich selber treu und wird für die andern zum Stein des Anstosses. Thomas More wählt das letztere, und Klaus Götte zeigt einen, der nicht etwas scheint, sondern ist, einen, der den andern freundlich, verständnisvoll, lächelnd begegnet, aber keinen Schritt entgegengeht. Eine schöne, beeindruckende Leistung.

 

Wer nicht mitspielt, wird aber zur Herausforderung für jene, die vom Spiel profitieren und es zu lenken vermögen; er muss daher auf irgendeine Weise ausgeschaltet werden. So ist der Konflikt zwischen ihm und dem König Heinrich VIII. von England von dem Moment an unvermeidlich, wo Thomas More dessen Kanzler und damit der zweithöchste Mann im Staate wird. Und hier zeigt sich die Stärke von Robert Bolts Schauspiel: Es führt vor, wie die Macht funktioniert und wie sie zustandekommt.

 

Der König versucht es zunächst auf die sanfte Tour oder, wie es im Stück heisst, "suaviter in modo". An einem schönen Frühlingsnachmittag besucht er More in dessen Garten, gibt sich leutselig, aufgeräumt, gutgelaunt, ja, er ist es vielleicht auch. Vertraulich nimmt er seinen Kanzler zur Seite, um ihn, in aller Freundschaft, zum Mitmachen zu bewegen...

 

Noch ist das Ganze zweideutig. Der König scheint wirklich an seinem Kanzler zu hängen, nicht nur, weil er der beste Mann für sein Amt ist, sondern auch, weil eine gemeinsame Vergangenheit die beiden Menschen aneinander bindet. Und trotzdem läuft es einem an diesem schönen Nachmittag kalt den Rücken hinab. Der "zufällige" Besuch des Königs ist nämlich gespielt und geplant. So spürt man denn hinter dem freundlichen und durchaus wohlwollenden Geplauder die Härte und Unerbittlichkeit der Macht, die bereit ist, zum äussersten zu gehen.

 

Rolf W. Böning als Heinrich VIII. aber hat das nicht herausgebracht. Statt die Macht, die sich noch hinter Güte versteckt, bloss spüren zu lassen, tritt er auf als stampfender, schnaubender Theaterbösewicht, lässt mit seinem Gebrüll die Wände erzittern, sträubt den Bart, rollt die Augen, ein Ungetüm, ein Elefant, der nichts als Scherben zurücklässt und die feinen Fäden des Stückes zerreisst.

 

Nach diesem Auftritt jedoch findet die Inszenierung zur Folgerichtigkeit zurück. Die Massnahmen, Thomas More zu beugen, werden verschärft. Sein Stern beginnt zu sinken, während Thomas Cromwell, der dem König die schmutzigen Geschäfte abnimmt – das bedeutet: den Fall More "bearbeitet" – höher und höher steigt. Sehr schön, wie Winfried Görlitz aus dieser Figur einen echten Gegenspieler zu More zu machen weiss. Auch Cromwell hat sich nämlich in der Hand, aber aus Berechnung, um den Überblick über das Spiel nicht zu verlieren. So strahlt der Cromwell von Görlitz die Kühle eines intelligenten Menschen aus, der sich zugunsten seines Ziels aufgegeben hat und alle Handlungen nur noch von taktischen Erwägungen ableitet. Thomas Cromwell – der perfekte Spieler; und Görlitz gelingt es, die Perfektion ebenso zu spielen wie die Hohlheit und Kälte, die dahinter sind.

 

Der geborene Spieler aber ist, im Stück zumindest, der Mann von der Strasse. Von Rolle zu Rolle schlüpfend, zunächst als unsereins, dann als Mores Diener, als dessen Fährmann, Gefängniswärter, Geschworener, Scharfrichter, zeigt Hans Schatzmann, wie stark Mores Schicksal nicht nur vom Unwillen der Mächtigen abhängt, sondern auch davon, dass "der gemeine Mann" mitspielt. Und das nicht aus eigenem Antrieb, auch nicht um Gewinn, sondern bloss, weil das von ihm verlangt wird. Auch hier wieder erweist sich Bolts Kunst der Zweideutigkeit, indem Schatzmann mit seiner echt komödiantischen Begabung die Lacher auf seine Seite zieht und trotzdem den Abscheu vor den Mitmachern zu wecken versteht.

 

So weist die Aufführung eine Reihe beachtlicher Einzelleistungen auf, die gewissermassen als punktierte Linie andeuten, in welche Richtung die Inszenierung laufen will. Insgesamt aber bleibt der Eindruck von Unausgewogenheit zurück, weil einzelne Spieler sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht ins Ganze fügen.

 

Möglich, dass Regisseur Rudolf Kautek durch starke Kontraste Gleichförmigkeit vermeiden wollte. Aber die Begegnung des subtil und nuanciert auftretenden Götte mit Kardinal Woolsey, einem alten, berechnenden Schlaukopf, sprengt allen Zusammenhalt, weil sich Michael Oglivie zu einer überladenen Dracula-Karikatur hinreissen lässt. – Da hätte ich mir gewünscht, dass unauffälliger gespielt werde, wie dies Gerda Zangger, Eleonore Bürcher und Thomas M. Meyer tun, mit dem Vorzug, das Ganze zu stützen, statt es zu gefährden.

 

Unauffällig spielt schliesslich auch Herbert Boss als Richard Rich. In der Tat, dies ist eine Figur, die im Windschatten der Grossen Stufe um Stufe erklimmt, vom jungen Taugenichts bis zum Lordkanzler. Richard Rich ist überdies die einzige Figur, die "in ihrem Bett stirbt", wie man vernimmt. Herbert Boss gibt diesen Meisterspieler als Dummchen, das so harmlos daherkommt, dass niemand in ihm eine Gefahr und einen Gegenspieler vermuten kann. Das aber trifft die Sache nur zur Hälfte. Denn schon die erste Szene zeigt uns einen praktischen, intelligenten Kopf. Doch davon, wie dieser Meisterspieler sein Talent entdeckt und sich korrumpieren lässt, wie er sich anfangs aus Unerfahrenheit und Scheu, später aber aus Berechnung unscheinbar macht, von all dem Abgründigen fehlt bei Boss jede Spur.

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