Die Zofen. Jean Genet." Die Zofen

Tragödie.                  

Hans Schatzmann. Theater 1230, Bern.

Der Bund, 28. April 1979.

 

 

Die entzauberten Zofen

"Die Zofen" von Jean Genet als Dialektstück

 

Dass Jean Genets Tragödie seit ihrer Entstehung im Jahr 1947 bereits zu einer Art Klassiker geworden ist und sich ununterbrochen in den Spielplänen halten konnte, während andere, ebenso wichtige Stücke jener Zeit aus der Mode und in Vergessenheit geraten sind, hängt nicht bloss damit zusammen, dass "Die Zofen" dem Voyeurismus des Publikums reiche Nahrung bieten. Zwar, es stimmt, es gibt kaum ein Stück, das so direkt in die Abgründe und Intimitäten eines Geschwisterpaars hineinführt, mit diesem komplizierten Beziehungsnetz von Verliebtheit, Hass, Anbetung und Verachtung. Und kaum ein anderes Stück tänzelt bei seinen Erkundungen so hartnäckig den Grenzen entlang: den Grenzen zum Sadomasochismus, der gleichgeschlechtlichen Liebe, dem Autoerotismus, aber auch den Grenzen zu Verrat, Feigheit und Mord.

 

Das alles bringen die "Zofen" in traumähnlicher Intensität zur Sprache – und doch, was letztlich zählt, sind nicht die bürgerschreckenden Inhalte, sondern die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, die das Stück den Schauspielern bietet. Da sind die Wirklichkeit der beiden Hausmädchen, das Spiel mit vertauschten Rollen, wo sie ihren Herrn imitieren, und das Ausphantasieren romantischer Träume ineinander verwoben.

 

Die zahlreichen und exakten Regieanweisungen Genets signalisieren dieses Wechselspiel verschiedener Ebenen mit Ausdrücken wie "sehr demütig", "einfältig", "schreiend", "ironisch". Und diese Anweisungen geben zu verstehen, dass die Schauspielerinne hier alle Register ihres Könnens ziehen dürfen.

 

Aber auch ziehen müssen. Denn sonst geht eine ganze Dimension, und wie mir scheint, die wichtigste, verloren. Jene des traumartig Farbigen und traumartig Unheimlichen: "Die Bewegungen der Schauspieler sind nach Möglichkeit schwerfällig oder blitzartig und unbegreiflich rasch, ihre Stimmen dumpfer als gewöhnlich", schrieb Genet zu seinem Stück "Unter Aufsicht". Ähnliches müsste für die Aufführung der "Zofen" gelten. Sonst geht ihnen nicht bloss der Zauber ab, sondern das, worauf es Genet ankam: das Tragische.

 

Diese albtraumartige Mischung der verschiedenen Seelenzustände, die das Anziehende und zugleich Abstossende von Genets "Tragödie" ausmacht, hat die Aufführung im Theater 1230 nicht herausgebracht. Im wesentlichen deshalb, weil Regisseur Hans Schatzmann die Möglichkeiten der Sprachregie nicht in ausreichendem Mass wahrnahm. Statt mit Timbre und Sprechgeschwindigkeit zu arbeiten, beschränken sich die Zofen von Heidi Diggelmann und Marion Garai auf den blossen Wechsel von laut und leise. Damit war die Aufführung weitgehend des Wunderbaren entkleidet.

 

Vollends an den Rand des Belanglosen wurde sie indessen durch die Übersetzung ins Schweizerdeutsche gedrängt. Denn die Konkretheit des Zürcher Stadtdialekts drückte das imaginäre Reich der Zofen immer wieder zu Boden. Was in der Bühnensprache "möglich" und in der Folge bedrängend gewesen wäre, erhielt durch dieses Bekenntnis zum Realismus bloss den Charakter des Verstiegenen, Exaltierten und Unglaubwürdigen. Doch dann, beim Erscheinen der Herrin, zeigte sich, dass eine begabte und ausdrucksstarke Schauspielerin (Margrit Müller) selbst mit diesem Handikap fertigzuwerden versteht. Wäre die ganze Aufführung auf dem Niveau ihres Auftritts gestanden, könnte man von einem Ereignis reden.

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