Motocross. Werner Wüthrich.

Schauspiel

Theater 1230, Bern.

Der Bund, 2. Juni 1980.

 

 

Früchte einer grossen Theaterarbeit

 

Ich habe den Brauch, nach den Premieren noch ein Wirtshaus aufzusuchen und bei einem Glas Bier das Gesehene mit meinem Begleiter eingehend zu besprechen. Diesmal aber wurden wir gestört. Ein Fremder setzte sich an unseren Tisch und folgte dem Gespräch mit unverhohlener Neugier.

 

Da eine solche Situation auf die Dauer genierlich wird, beschlossen wir, den Fremden nicht länger zu ignorieren: "Kennen wir uns von irgendwoher?" wurde er gefragt. Nein, war seine Antwort, er gehe sonst nicht ins Theater. "Ich bin nur diesmal gekommen, weil mich das Thema interessierte", sagte er und tippte mit dem Zeigefinger aufs Flugblatt. "Motocross" stand da. Er sei, so vernahmen wir, lizenzierter Rennleiter, Werbechef des Motoclans und aktiver Fahrer. Ein Fachmann also.

 

Und damit entpuppte sich die Störung als Glücksfall. Der Unbekannte konnte uns sagen, ob es sich "in Wirklichkeit" so verhalte, wie das Stück behaupte, eine Frage, die über den Horizont eines Theaterkritikers hinausreicht.

 

Es zeigte sich, dass Motocross anders ist. Es gibt in der Schweiz (noch) keine Sponsoren, die den Star aufbauen und dann für ihre Geschäfte ausnützen. Insofern, sagte der anonyme Gewährsmann, könne sich keiner der hiesigen Crossfahrer betupft fühlen.

 

Anderseits liess sich auch von ihm nicht bestreiten, dass der Inhalt der Geschichte real ist. Wir sehen es bei anderen Sportarten, im Berufsleben und an uns selbst, wie leicht wir uns aufgeben, um Erfolg zu haben. Und immer wieder bestätigt sich, dass der Erfolg zum Gefängnis wird, das uns die Freiheit raubt und unsere Persönlichkeit zerstört, zumal wenn sich Erfolg und Kommerz vermischen wie beim Sport – oder eben im Stück.

 

Und das stand fest: Motocross dient dem Autor Werner Wüthrich nur als Beispiel. Dieser Sport gab ihm das Material her, um Allgemeineres zu exemplifizieren. – Doch wie steht es um dieses Material? Der Fachmann: "Beinahe alles, was im Stück gesagt wird, ist authentisch."

 

Die Karikatur (oder was wir dafür nahmen) ist also echt. Aber echt ist auch das Menschliche. Was Fritz Marti, der Cross-Star im Stück, vom Gefühl beim Starten sagt, oder wie er sein Verhältnis zur Maschine beschreibe, sei genau so, wie sich die Boys auf dem Rennplatz ausdrückten, vernahmen wir. – Er habe nach der Aufführung ein gutes Gefühl, sagte abschliessend der Fachmann. Sein Sport werde nicht diffamiert.

 

Wenn Betroffene so reagieren, dann stellt das zunächst für ihre eigene Toleranz und Ehrlichkeit ein Zeugnis aus. Aber nicht nur das: Es dokumentiert zugleich, dass das Stück die Proportionen nicht verzerrt, sondern, was das Inhaltliche angeht, wahr ist.

 

Wahrheit ist es nun auch, was die Uraufführung im Theater 1230 der Kritik gegenüber resistent macht. Ich meine vorab die Wahrheit des Engagements, mit dem das Ensemble hinter seiner Produktion steht, und die durchschlägt, durch alle Schwächen hindurch, und die trägt, ungeachtet aller Längen.

 

Wahrscheinlich ist das darauf zurückzuführen, dass das Theaterkollektiv eben "seine" Aufführung herausbringt: Autor, Regisseur, Ausbildner, Protagonisten und Ensemble gehören zusammen, sie haben alles selber gemacht und gezimmert, bis hin zur Ausstattung. Das gibt dem Ganzen eine Authentizität und Frische, die wohltut.

 

Offensichtlich beginnt hier eine beharrliche, ernsthafte Theaterarbeit mit Laien Früchte zu tragen. Und zwar – um beim Beispiel zu bleiben – biologisches Obst. Dieses ist ja oft unansehnlich, verkrüppelt, schorfig – aber auch echt, unverwechselbar, aromatisch. Und das macht es dem Kenner lieb.

 

Auch in der Aufführung also fand sich neben dem Vorzug des Selbstgezogenen der Nachteil des Unansehnlichen und nicht ganz Ausgereiften, das soll nicht verschwiegen werden. Der Anfang beispielsweise ist zu lang, das Ende zerbröselt (nicht zuletzt dadurch, dass man die Idee, die Anfangsmusik am Schluss zu wiederholen, zehn Minuten zu früh steigen liess, so dass ein starker Effekt nutzlos verpuffte). Dem Ganzen eignet auch eine gewisse Schwere und Eintönigkeit – offenbar ein unvermeidliches Handikap des Laientheaters, das selbst Regisseur Peter Schneider nicht zu überwinden verstand.

 

Dass der wünschbare Wechsel der Töne nicht zustandekam, liegt indessen auch am Stück, das sein Anliegen eine Spur zu ernst nahm und vergass, dass auch die Ironie ein Mittel sein kann, um Sachverhalte zu entlarven. Kurzum, in der Humorlosigkeit liegt die Schwäche des Abends.

 

Doch trotz allen Einwänden hinterlässt die Aufführung – um eine Wendung des Unbekannten aufzunehmen – auch beim Kritiker ein gutes Gefühl. Der Einsatz, mit dem die Spieler hinter ihrer Sache stehen, überträgt sich auf den Zuschauer und nötigt ihm Respekt ab. – Und dann gibt es einen Darsteller, der rundweg gut ist: Remo Sterchi. Was dieser Bursche an Ausstrahlungskraft mitbringt, macht ihn nicht nur zum Helden des "Motocross", es macht ihn zum Ereignis des Abends.

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