L'italiana in Algeri. Gioacchino Rossini.

Oper

Myung-Whun Chung, Ken Russel. Grand Théâtre de Genève.

Radio DRS-2, Reflexe / Sender Freies Berlin, 19. April 1984.

 

 

[Anage: Es isch sälte, aber das Mal isch's passiert. An ere Premiere vom Genfer Grand Théâtre isch buuht worde. Nid heftig, aber doch lang gnue, für ne chlyne Skandal z mache. Usglöst het die Buhruefe d Inszenierig vom Ken Russel. Dä Regisseur isch vor allem bekannt dür syner Filme, wo Komponiste u Musiker gwidmet sy. "The Music Lovers", "Mahler", "Tommy", "Lisztomania" u "Valentino" sy sini wichtigste Title. Sit zwöine Jahr tuet der Russel ou Operen inszeniere. "The Rake's Progress" z Florenz und d "Soldaten" z Lyon. – Usserhalb vo der Schusslinie sy die musikalische Leistige gstande. Der 31jährig Dirigent Myung-Whun Chung het z Genf es respektabels Debüt gä. Dä Schüeler vom Ehrling u vom Giulini het scho d Berliner Philharmoniker u d Wiener Symphoniker dirigiert. Z San Francisco wird er no das Jahr der "Don Giovanni" u z Monte Carlo der "Rigoletto" usebringe. Für 1986 isch sys Debüt a der Met planet.

 

D Soliste us der Genfer Uffüehrig hei mehrheitlich grossi Näme. Der Mustafa wird gsunge vom Paolo Montarsolo, d Isabella vo der Stefania Toczyska, der Taddeo vom John Rawnsley u der Lindoro vom Robert Gambill. Hie het's kener Schwächine gä. Umstritten aber isch d Inszenierig, wie der Michel Schaer brichtet.]

 

Die Genfer Opernkritik reagierte mehrheitlich ablehnend:

 

(Wort)

 

Was ist geschehen? Ken Russel, der Filmregisseur, hat die "Italienerin in Algier" inszeniert.

 

(Musik)

 

Man kennt die "Italienerin" als leichtes, gefälliges Werk. Die Musik ist geistvoll, verspielt, voller Esprit und Nervosität. Aber sie ist nicht sehr tief, sie plätschert allzu gleichförmig daher, eine Schwäche, die selbst Rossini später zugab. Es mangelt an harmonischer Kühnheit, an melodischer Fülle, am Wechsel der Töne. Die "Italienerin" sei eben ein "passe-temps" gewesen, erzählt der Komponist; hingeschmissen in drei Wochen. Er habe sich damals, mit 21 Jahren, von seinem "Tancredi" erholen wollen. Und so ist das Ganze nicht sehr bedeutend, nicht sehr amüsant. Die Musik dient dem Komponisten als Vorwand, um sich auszudrücken, und das Libretto seinerseits ist wieder ein Vorwand für die Musik.

 

Die Handlung beginnt im Palast des Bey von Algier. Mustafa ist seines Harems überdrüssig. "Für eine Liebesstunde", sagt er, "finde ich keine einzige unter meinen Sklavinnen, die mir gefallen könnte. Stattdessen habe ich ein brennendes Verlangen, es mit einer dieser Zauberinnen aufzunehmen, die, kokett, gefallsüchtig, alle Männer und Anbeter am Narrenseile führen, zum Beispiel eine Spanierin, eine Italienerin." Diese Zauberin treibt ihm nun das Schicksal in die Arme. An der Küste strandet ein italienisches Schiff, und unter der Besatzung ist eine Frau. Jubel im Sultanspalast. Aber bald einmal zeigt sich, dass der Bey an dieser Frau seinen Mann findet. Denn Isabella ist weit davon entfernt, sich dem Sultan zu unterwerfen, geschweige denn hinzugeben. Mit dem Stolz einer Italienerin diktiert sie dem Mann die Bedingungen ihrer Liebe. Und der Bey, der sonst die Köpfe rollen lässt, gibt klein bei. Das erotische Verlangen lässt ihn seine Würde vergessen, es macht ihn zur lächerlichen Figur. In der letzten Szene der Oper tritt er ein in den Orden der gefoppten Ehemänner, der "Pappataci", und öffentlich spricht er das Gelübde: "Augen haben und nicht sehen, Ohren haben und nichts hören, essen, trinken, fröhlich leben, sich an andrer Tun nicht kehren. Das gelob ich, Pappataci Mustafa." Während der Dumme seine Augen schliesst und seine Ohren verstopft, entfliehen Isabella und alle übrigen italienischen Gefangenen in die Freiheit.

 

(Musik)

 

Man kann das Ganze im Kostüm der Zeit und im Stil des Pappkulissentheaters inszenieren. Der Vorteil ist: Man bringt die Oper ungefähr so, wie sie gemeint war. Der Nachteil: Die belanglose, veraltete Geschichte bleibt veraltet und belanglos.

 

Darum, so vermute ich, hat Russel das Ganze modernisiert. Elvira schmachtet nun nicht mehr im Serail, sondern zusammen mit den andern Damen im Schönheitssalon. Und die Eunuchen sind nicht mehr Eunuchen, sondern schwule Damenfrisöre, die mit Kamm und Haartrockner um ihre Kundinnen herumtänzeln. An der algerischen Küste strandet kein Schiff mehr, sondern eine zweimotorige Propellermaschine. Und die Schiffbrüchigen sind keine Matrosen mehr, sondern Mitglieder der italienischen Fussballnationalmannschaft.

 

Russels Konzept besteht also darin, die Geschichte auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Er sieht, dass die Vorlage mit naivem Chauvinismus durchtränkt ist: Die Italiener sind klüger als die Algerier. Diesen Chauvinismus findet man heute auf dem Sportplatz. Darum die Fussballer. – Russel sieht, dass die Sklavinnen für den Bey blosse Sexobjekte sind. Aber auch heute noch müssen die Frauen den Männern gefallen. Darum der Schönheitssalon. Das Ganze ist also durchdacht. Sogar die "Bunny Girls" haben eine Funktion, wenn sie als Sexhäschen mit langen weissen Ohren und einem Wattebausch am Hintern über die Bühne wirbeln. Sie symbolisieren die Klischees der Hollywood-Musikfilme. Und mit den Hollywood-Anspielungen parodiert Russel die Klischees von Rossinis Musik und Textbuch.

 

Warum dann wurde die Aufführung kein Erfolg? An der Musik kann's nicht liegen. Der 31jährige Dirigent Myung Whun Chung war sehr inspiriert, klug, sensibel. Das Orchestre de la Suisse Romande folgte ihm auf Wink und Miene. Hervorragend die Präzision bei den Streichern. Und die Bläsersoli waren ein Leckerbissen. Ausgezeichnet auch die Besetzung: Die Solisten bildeten ein Ensemble von klangschönen, vollen Stimmen.

 

Warum also wurde die Aufführung kein Erfolg? Die Krux liegt, so glaube ich, an der Inszenierung. Bei aller Gründlichkeit des Konzepts ist Ken Russel die optische Phantasie durchgegangen. Die Damenfrisöre, die Bunny Girls, die Fussballelf brachten ein Übermass an Gags und Bewegungen. Und das lenkte von der Musik ab. Die optischen Elemente dominierten und wirkten gleichzeitig aufgesetzt. Mithin: Keine Inszenierung aus dem Geiste der Musik. So haben wir bei der "Italienerin in Algier" den seltenen Fall einer Aufführung, die sich in ihrer ganzen Fragwürdigkeit auf höchstem professionellem Niveau bewegt. Auch im Versagen noch machte das Grand Théâtre grosses Theater. Das entspricht dem Anspruch des Hauses. Generaldirektor Hugues Gall:

 

(Wort)

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