Die Glasmenagerie. Tennessee Williams.

Schauspiel.

Peter-Andreas Bojack, Carlo Coene, Reinhold Glembotzki. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 20. März 1984.

 

 

Wieder einmal eine eindringliche, schöne Aufführung, in der alles stimmt. Carlo Coene hat ein transparentes Bühnenbild von hohem Reiz und atmosphärischer Dichte geschaffen. Die Musik von Reinhold Glembotzki weht durchs Stück wie ein zarter Wind. Die Regie von Peter-Andreas Bojack ist leise, verhalten, differenziert. Das Ganze ergibt eine Aufführung, die den Zuschauer bewegt, trifft und nachdenklich stimmt.

 

"Die Glasmenagerie" handelt von einer dreiköpfigen Familie: Mutter, Sohn, Tochter. Der Vater ist schon vor Jahren auf und davon. Jetzt muss der Sohn als Lagerhausarbeiter die Familie durchbringen. Dafür verzichtet er auf seine Selbstverwirklichung. Die Mutter jedoch erkennt das Opfer, das er bringt, nicht, und die die verkrüppelte Schwester hat sich ganz in die Welt ihrer Glastiere eingesponnen. So kann das Stück nur im Pessimismus enden.

 

Beat Albrecht spielt Tom Wingfield, den Sohn. Er zeigt einen Burschen, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Ungerührt schlürft er seinen Kaffee, während die Mutter auf ihn einredet: "Du kannst doch nicht mit leerem Magen an die Arbeit! Trink nicht so schnell! Allzu heisse Getränke verursachen Magenkrebs! Nimm Sahne, um den Kaffee abzukühlen!" Der Sohn aber bewahrt seine gleichgültige Haltung. Ruhig und bestimmt sagt er: "Nein. Ich trinke meinen Kaffee lieber schwarz."

 

So zeigt Beat Albrecht einen Menschen, der nach aussen hin unheimlich "cool" wirkt. Was er eigentlich denkt, sagt er keinem. Das ist sein Trick. Indem er sich auf niemanden einlässt, vermeidet er Schwierigkeiten. "Man sieht nicht, was in dir vorgeht", klagen seine Mutter und die Arbeitskollegen. Er zuckt die Schultern. Wer könnte ihn schon verstehen? Seine Gefühle, Beobachtungen, Gedanken schreibt er in Gedichten nieder, die er heimlich im Lagerhaus-Klo verfasst. Damit versucht er, mit der Welt zurand zu kommen. Vergeblich.

 

Weil Tom sein Innerstes für sich behält, wirkt er unzugänglich, eigenbrötlerisch. Aber in ihm drin, da brodelt es. Er trägt ja die Last dreier Schicksale auf seinen Schultern. Da ist der Vater, der vor 16 Jahren durchgebrannt ist. Er hat die Mutter verlassen – aber das kann man begreifen, wenn man Amanda Wingfield kennt. Und da ist Laura, die Schwester. Ein armes Wesen – schwach, scheu, verkrüppelt. Wie ist dem allem beizukommen? So übertüncht die Gelassenheit, die Beat Albrecht zeigt, die Hilflosigkeit im Innern von Tom Wingfield. Eine reife Leistung.

 

Noch zurückhaltender als ihr Bruder benimmt sich Laura Wingfield, dargestellt von Agnes Bühlmann. Sie wagt kaum, sich zu bewegen, weil jede Bewegung verrät, dass sie verkrüppelt ist. Verkrüppelte Mädchen aber finden keinen Mann. Und das ist schlimm. Darum hat die Mutter verboten, dass man über Lauras Lähmung spricht: "Du darfst es nie, nie aussprechen. Denn du bist nicht verkrüppelt, du hast nur eine leichte Behinderung, die man kaum bemerkt."

 

Lauras Dasein ist mithin von der Angst überschattet, sie könnte ihren Defekt verraten. Und diese Angst hat ihre Seele verkrüppelt. Jetzt ist sie so scheu, dass sie sich nicht mehr unter die Menschen wagt. Am liebsten macht sie sich unsichtbar. Drückt sich in eine Ecke. Atmet leise. Man vergisst ganz, dass Laura da ist, so unscheinbar und verhalten zeichnet sie Agnes Bühlmann. Wie die Tierchen ihrer Glasmenagerie ist sie reglos, stumm, zerbrechlich.

 

Klar arbeitet Tennesse Williams heraus, wo der Fehler liegt: Amanda Wingfield, die Mutter, meint es zu gut mit ihren Kindern. Und warum? Weil sie, zutiefst in ihrem Innern, nicht an sie glaubt. Sie traut ihnen nicht zu, dass sie ihren Weg machen werden. Darum fühlt sie sich genötigt, sie zu bemuttern. Gerda Zangger spielt die enttäuschte Amanda Wingfield. Vor sechzehn Jahren hat sie ihr Mann sitzengelassen. Nun möchte sie ihre Kinder vor ähnlichem Schicksal bewahren. Sie sollen es einmal besser haben. Sie sollen vorwärtskommen im Leben. Gerade, weil ihre Ehe ein Fiasko war, darf sie als Mutter nicht versagen. Aus dieser Angst wachsen ihr gehetztes Getue, ihre Ratschläge, ihre Fürsorglichkeit. Und wie es so geht: Sie merkt nicht, dass sie gerade mit ihrer Fürsorglichkeit das Selbstvertrauen der Kinder erstickt.

 

Bis zur Pause spielte Gerda Zangger mit grossartiger Routine. Aber es fehlte der Funke letzter Eindringlichkeit, das Unnennbare des wirklichen Lebens. Oder lag es daran, dass sie an der Premiere wegen Erkältung indisponiert war? Nach der Pause liess ihre Stimme nach, die Intensität der Darstellung jedoch nahm zu. Hinter dem nervösen, hysterischen Getue wurde die Tragödie einer armen, liebebedürftigen Seele spürbar. Ich könnte mir denken, dass Frau Zanggers Spiel in späteren Vorstellungen der Perfektion nahekommt.

 

Frisch wie das Leben selbst tritt Reto Lang als Jim O'Connor in der letzten Szene auf. Er ist das Gegenbild zur Wingfield-Familie: Lebenstüchtig, gelöst, liebenswürdig.

 

Zwar laufen auch bei ihm die Dinge nicht ideal. Nach einem glänzenden Start in der High School hat er es nur zum Lagerhaus-Angestellten gebracht. Realistischerweise jedoch glaubt er mit seinen 23 Jahren noch an eine Zukunft: "Ich bin enttäuscht", sagt er, "aber nicht entmutigt." Mit ungebrochenem Lebenswillen arbeitet er an sich selbst. Sucht sich von seiner Schüchternheit zu befreien und weiterzukommen. Und zwar ohne fremde Hilfe. Das heisst: nicht ganz. Denn Jim O'Connor hat ein Mädchen, das ihn liebt. "Die Liebe hat einen neuen Menschen aus mir gemacht", schwärmt er. Und stolz fügt er bei: "Die Macht der Liebe ist wirklich unheimlich!"

 

Durch dieses Bekenntnis bricht auch bei Jim O'Connor der Pessimismus des Autors durch. Wie viele Menschen sind schon durch echte Liebe von ihrer Lebensangst geheilt worden? Tennessee Williams jedenfalls, der als zerfallenes Wrack vor zwei Jahren in seinem Hotelzimmer erstickte, hat diese Rettung an sich selber nicht erfahren.

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