Das Gartenfest. Vaclav Havel.

Komödie.

Vilmos Désy, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 27. September 1983.

 

 

Das Stadttheater zeigt einen verbotenen Autor

Wer hat Angst vor Vaclav Havel?

 

Seit 1968 dürfen seine Stücke in der Tschechoslowakei nicht mehr gespielt werden. Bis zu diesem Sommer war er im Gefängnis. Natürlich gab es kein Gerichtsverfahren. Es genügte, dass Vaclav Havel ein gefährlicher Mann ist: Er denkt zuviel. Selbst für uns freie Schweizer ist er noch unbequem genug. Das zeigt eine beklemmende Inszenierung im Stadttheater.

 

Eine merkwürdige Sache, dieses "Gartenfest"! Die Szenenanweisung verlangt "Wohnung der Pludeks" – und was sieht man im Theater? Ein Stück Tuch, das auf drei Stangen hereingetragen wird! Und statt eines Fussbodens neigt sich ein unförmiges, schiefes Podest von hinten nach vorn. Vergeblich die Hoffnung auf ein "richtiges" Sofa, einen "richtigen" Wandschrank oder eine "richtige" Tapete. Alles in dieser "Wohnung" ist nur flüchtig auf die Stoffkulisse gemalt.

 

Karl Weingärtner hat also ein groteskes Bühnenbild bereitgestellt. Nichts daran ist "richtig", nichts "im Lot". Alles ist schief, verzerrt und unwirklich wie die Welt, in die uns "das Gartenfest" von Vaclav Havel hineinführt.

 

Da ist die kleinbürgerliche Beschränktheit der Familie Pludek. Der Alte wiederholt seine abgedroschenen Sprüche, etwa: "Lieber Sohn, Kern eines Volkes ist der Mittelstand, und warum? Kein Bienchen baut sein Nest allein!" Die Mutter unterbricht ihn immer wieder mit den Worten: "Sei mal still, Oldo! Hat es nicht geklingelt?" Wir kennen das. Es ist die alte Geschichte, die sich da vor uns abspielt: Die Leute machen Sprüche, aber sie reden nicht miteinander.

 

Die schiefe Welt, die das "Gartenfest" vorführt, ist eine Karikatur unserer nicht minder schiefen Welt. Vaclav Havel hat die Dinge verzerrt, damit ihre Unnatürlichkeit umso deutlicher hervortritt. Unnatürlich ist das "normale" Familienleben. Und unnatürlich ist der "moderne" Staat, in dem alles genormt ist: "Wenn Sie eine Bewilligung des Organisationsausschusses besorgt haben, dürfen Sie auch ein wenig tanzen, und zwar auf dem grossen Parkett A zwischen halb zwölf und zwölf oder auch zwischen Viertel vor eins und halb zwei."

 

Weil wir es mit Unnatürlichkeit zu tun haben, hat sich Vilmos Désy, der Regisseur, für die groteske Stillage entschieden. Jedesmal, wenn der Vater (Aldo Huwyler) zur Anrede an den "lieben Sohn" ansetzt, hebt er mechanisch den Zeigefinger, als würde er von einem Marionettenfaden dirigiert. Und wenn die Mutter (Karin Minet) fragt: "Hat es nicht geklingelt?", rückt sie ihren Kopf, wie wenn sie einen unsichtbaren Schubs bekommen hätte.

 

Die Aufführung, die auf diese Weise zustandekommt, ist für das Städtebundtheater neuartig: Es gibt keinen natürlichen Ton, keine realistische Diskretion. Alles ist überzeichnet, stilisiert, choreographiert wie im Ballett. Kein Zweifel, diese Inszenierung bedeutet einen Gewinn für unser Theater.

 

Ich will gern zugeben, dass ich am Anfang Mühe hatte, mich mit dieser Spielweise anzufreunden. Ich fragte mich, ob das Stück diese Überzeichnung nötig hat; ob seine Effekte dadurch nicht zu äusserlich werden.

 

Doch dann zeigte sich, dass Vilmos Désy dem Text sehr aufmerksam gefolgt ist. Kein Wort ist gestrichen, aber zu jedem Wort hat sich der Regisseur etwas überlegt. So wächst die Handlung ganz aus dem Dialog heraus, und sie schafft Zusammenhänge, die das Stück erhellen.

 

Die Aufführung machte zum Beispiel sichtbar, was in zwei Beamtenherzen vorgeht. Mit hochgradiger Differenzierungskunst zeichnete Gerda Zangger eine Sekretärin, in der sich der Eros zu regen beginnt. Und ohne Mitleid gab Kurt Bigger die lächerliche Verklemmtheit seines Sekretärs preis. Auf Entlarvung legte auch Erwin Leimbacher seine Rolle an: Solange der Funktionär Aufwind hat, ist er zupackend aggressiv. Aber vom Moment an, wo sich sein Blatt wendet, winselt er wie ein Hund.

 

So steigerte sich die Aufführung von Szene zu Szene bis zum Höhepunkt mit Alf Beinell. Dieser Schauspieler, dessen Register ich alle zu kennen glaubte, war wie verwandelt. Eine hervorragende Maske hat ihm Liselote Fabian angefertigt, und aus ihr heraus spielt er nun den alten Direktor. Seine Stimme kommt von weit her; sie ist müde und gleichgültig. Die Stunde hat geschlagen, wo er abdanken muss. Langsam zieht er die Uniform aus und faltet sie mit altgewohnter Sorgfalt zusammen. Bei jedem Stück steigen Fluten der Trauer in ihm hoch. Sie hemmen seine Bewegungen, er verliert sich in der Erinnerung. Doch dann gibt er sich einen Ruck: Vorwärts! Weiter bis zum Ende, wo er in den Unterhosen dasteht, entmachtet, abgehalftert, gedemütigt.

 

Indes, die Tragödie geht eigentlich nicht mit dem alten Direktor vor, sondern mit dem jungen Mann, der ihn verdrängt. Denn um nach oben zu kommen, hat sich der Karrierist anpassen müssen. Und Anpassung bedeutet Selbstpreisgabe. So hat sich Hugo Pludek im selben Mass aufgegeben, in dem er aufgestiegen ist. Bis ihn am Schluss die eigenen Eltern nicht mehr erkennen. "Hören Sie mal", fragt ihn der Vater, "wer sind Sie eigentlich?" – "Ich? Wer ich bin? Wisst Ihr, ich habe so einseitig gestellte Fragen nicht gern, wirklich nicht!", antwortet der verlorene Sohn. Wie soll er angeben können, wer er ist, da er ja sein Selbst verleugnet hat? So berichtet das Stück von einer traurigen Verwandlung. Reto Lang allerdings, der diesen Persönlichkeitsverlust hätte darstellen sollen, blieb Reto Lang.

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