Die schmutzigen Hände. Jean-Paul Sartre.

Rudolf Kautek, Ulrich Hüstenbeck. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 28. März 1984.

 

 

 

Der Höhepunkt der Theatersaison

 

Mit dem Fallen des Vorhangs rauschte der Applaus auf. Und als sich das Ensemble verbeugte, ertönten Bravorufe. Sie galten der handwerklich saubersten, schönsten und intensivsten Aufführung dieser Spielzeit. Zustande kam dieser Höhepunkt durch die subtile Personenführung von Regisseur Rudolf Kautek, das stimmungsvolle, durchdachte Bühnenbild von Ulrich Hüstenbeck und durch das ungemein konzentrierte Spiel aller Darsteller.

 

Politisch kann man über das Stück geteilter Meinung sein. Es vertritt – nach aussen hin – die kommunistische Ideologie. Es identifiziert sich mit der Sowjetunion zur Zeit Stalins. Und es bejaht Mord und Terror als Mittel des politischen Kampfs. Lauter Fragwürdigkeiten.

 

Aber man darf nicht vergessen, wann Sartre seine "Schmutzigen Hände" geschrieben hat: 1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals steckten viele Franzosen in einer Phase quälender Selbsterforschung. Gerade die Besten – und zu ihnen zählte auch Sartre – gerade die Besten hatten Blut an den Händen. Schuld lastete auf ihnen, weil sie der Resistance angehört hatten. Der Kampf gegen die deutsche Okkupation hatte sie zum Töten gezwungen. Und nun, wo die Greuel auch der Résistance zum Vorschein kamen, standen sie vor der Notwendigkeit, ihre Taten – oder waren es Untaten? – vor sich selber zu verantworten.

 

In diese Zeit hinein ist das Stück geschrieben worden. Es will Klarheit schaffen und Antwort geben, indem es zeigt, auf welchen Wegen verschiedene Charaktere zur politischen Tat kommen. Das Stück zeigt also Menschen, und es zeigt sie in der Entwicklung begriffen. Das macht "die schmutzigen Hände" theatralisch so ergiebig und künstlerisch so gehaltvoll.

 

Auf der untersten Stufe finden wir den simplen Befehlsempfänger. Im Stück heisst er Iwan. Nervös geht er auf und ab. Gleich wird er eine Brücke in die Luft sprengen müssen. Kurt Bigger, der die Rolle verkörpert, macht kein gequältes Gesicht. Es sind nicht moralische Vorbehalte, die ihn umtreiben. Er ist linientreu, ideologisch verlässlich. Von oben ist ein Befehl gekommen, er führt ihn aus – voilà tout. Seine Unruhe entstammt bloss der Ungewissheit: Wird der Anschlag gelingen? Kann ich entwischen?

 

Auf der gleichen Ebene bewegen sich die Leibwächter des Parteichefs. Es sind brave Handwerker. Der eine war früher Spengler, er hantierte mit Zangen und Schraubenschlüsseln. Jetzt trägt er eine Knarre im Anschlag und den Finger am Abzug – aber was soll's? Für ihn ist eine Arbeit wie die andere.

 

Bruno Gerber und Hans Schatzmann stellen die beiden Leibwächter dar. Sehr überzeugend, wie sie die Kumpels spielen: gemütlich, schwerblütig, arglos. Am liebsten haben sie vermutlich Bier und Wurst. Schliesslich ist man doch Mensch, oder?

 

Unendlich viel kompliziert er liegen die Dinge bei Hugo. Er ist, wenn man so will, der Hamlet unter den Revolutionären. Wie der Dänenprinz soll auch er eine Art König umbringen, nämlich den mächtigen Parteiführer Hoederer. Aber wie die Shakespeare-Figur ist er "von des Gedankens Blässe angekränkelt" und daher unfähig zur Tat. Wie er dasteht, zerfressen von Minderwertigkeitskomplexen, nimmt ihn keiner der andern ernst. "Mein Junge", sagt der Chef zu ihm, und seine Frau nennt ihn: "Mein kleiner Hase".

 

Ingo Seeckts verkörpert diesen zweifelsüchtigen, entschlussschwachen Intellektuellen: Ein langer, schmaler Bursche mit bleichen Zügen, hohlen Wangen und glühenden Augen. Seine Bewegungen sind linkisch, und er formt die Worte mit dem monoton klagenden Tonfall des Schwächlings.

 

Da ist Jessica, seine Frau, von ganz anderem Kaliber. Zuerst hält man sie für eine sinnliche, aber leider dumme Schönheit, Typ Marilyn Monroe. Im Lauf des Stücks jedoch kommt ihr gerader Verstand ans Licht. Und zuletzt, ganz zuletzt, macht sie sich auch noch auf den Weg zur Eigenständigkeit. Sie übernimmt die Verantwortung für ihr Schicksal; darin besteht ihre Tat.

 

Bettina Kuhn stellt diese imponierende Person mit nuancenreicher Ausdruckskraft dar. Ich denke an ihren ersten Auftritt: Als sie Hugo, der Mann, umarmt, nimmt ihr Gesicht einen leeren, gleichgültigen Ausdruck an: "Was soll ich mit diesem Menschen?", scheint sie zu denken. Wie er sie aus seinen Armen entlässt, gibt sie sich einen Ruck, setzt ein Lächeln auf und spielt – spielt wieder das anspruchslose, dumme Weibchen. Dann der letzte Auftritt. Sie hat sich dem Menschen hingegeben, den sie wirklich achtet und liebt. Und nun blickt aus ihren Augen ein ungewohnter, tiefer Ernst; sie weiss jetzt, was sie will, und ihre Stimme hat einen anderen Klang.

 

Hoederer, den Parteichef, stellt Alex Freihart dar, und das ist ein Glücksfall. Person und Rolle kommen zu beinah vollkommener Deckung. Freiharts Hoederer ist kein schöner Mann: In seinem groben Gesicht steckt eine zerquetschte Nase. Der Rücken rundet sich zum Buckel, und an den kräftigen Armen hängen auffallend kleine, sensible Hände. Ein merkwürdiger Mensch. Äusserlich wirkt er träg, fast unbeholfen. Aber in ihm drin vibriert es vor Spannung und Kraft.

 

Mit beiden Beinen steht dieser Hoederer auf dem Boden der Wirklichkeit. Das zeigt sich schon daran, wie er seine Zigarre anzündet: andächtig, langsam, geniesserisch. Einer, der so selbstversunken pafft, versteht intensiv zu leben. Nichts tut er unbedacht; immer hat er den Kopf bei der Sache. Darum lässt sich dieser Mensch auch nicht von ideologischen Sprüchen blenden. Als ihm Hugo die Parteiparolen vorhält, schnaubt er verächtlich: "Worte, Worte, nichts als Worte!"

 

Mit dieser Figur beantwortet Sartre die Frage, ob sich "schmutzige Hände" verantworten lassen: "Wer Politik macht", sagt Hoederer, "kann nicht rein bleiben." Jeder, der handelt, verstrickt sich in Schuld.

 

Aber nicht die schmutzigen Hände sind das Problem. Sondern entscheidend ist, ob man aus Liebe zu den Menschen handelt, wie Hoederer, oder bloss aus Liebe zu Parteiparolen, wie Hugo. Ob man in der Wirklichkeit lebt oder im ideologischen Wahn.

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