Stützen der Gesellschaft. Henrik Ibsen, bearbeitet von Manfred Schwarz.

Alex Freihart, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt , 17. Februar 1981.

 

 

 

Schwer definierbare Mittelmässigkeit

 

Es war nicht die glänzendste aller Premieren. Eine schwer definierbare Mittelmässigkeit zog sich durch die Aufführung, angefangen beim Stück, das in der Bearbeitung von Manfred Schwarz seine eigentümliche Physiognomie verloren hat. Mittelmässigkeit zeigte sich auch bei der Inszenierung, die die Leute ansprechend gruppierte, aber keine Spannung aufkommen liess, und Mittelmässigkeit schliesslich bei den schauspielerischen Leistungen, die nur zu einem geringen Teil inspiriert wirkten.

 

 

Vor 56 Jahren, am 10. Februar 1925, begann der Berliner Kritiker Alfred Kerr mit dem Satz: "Dieses Stück ist veraltet. Wir lachen über eine Dramentechnik, wo jemand sagt, er arbeite nur für die Zukunft seines kleinen Sohnes... und wo kurz darauf dieser kleine Sohn als tot gemeldet wird; oder wo man von einer Schwägerin spricht, die vor langer Zeit nach Amerika zog... und wo gleich darauf diese Schwägerin eintritt. Verjährt, Absichtlichkeit, Theaterzüge."

 

Vor zwanzig Jahren schrieb Hanno Lunin im Programmheft der Städtischen Bühnen Augsburg: "Die Wiederbegegnung ist erschütternd. Denn 'Samfundets stotter', 1877 als alarmierende Warnung vor falschen 'Stützen' der menschlichen Gesellschaft geschrieben, ist heute aktueller, als es je zur Zeit seiner Entstehung gewesen sein mag."

 

Und heute, 1981, schreibt Manfred Schwarz ins Programmheft des Städtebundtheaters Biel–Solothurn: "Die Aussage Ibsens bleibt Ibsens Aussage. Ich bin (...) nicht der Versuchung erlegen, die Handlung in unsere Tage zu verlegen und sie dadurch zu aktualisieren. Sie hat es meiner Meinung nach auch nicht nötig. Ibsens Stücke werden nämlich auch in hundert Jahren aktuell sein."

 

Diese drei Zitate belegen vor allem eins: dass Ibsen sich einer steigenden Wertschätzung erfreut. Und wenn man fragt, woran das liegt, so wird man zur Antwort erhalten: Seine Stücke sind eben gut.

 

Doch mit dieser Antwort fangen die Schwierigkeiten erst an. Was heisst gut? Bestimmt liegt die Qualität nicht in der äusseren Aktualität. Die Probleme, die sich in "Stützen der Gesellschaft" stellen, sind kaum mehr die unseren. Unsere Gemüter erhitzen sich nicht mehr wegen dem Bau einer Eisenbahn. Bei uns ist niemand mehr gesellschaftlich ruiniert, wenn er in die Zeitung kommt. Wenn auskommt, dass jemand als junger Mann bei einer Schauspielerin geschlafen hat, gibt es keinen Skandal mehr. Alfred Kerr bemerkte dazu: "Es gibt nicht mehr irgendwo massgeblich diese Traktätchenluft; diese Kleinlichkeit einer sozialen Schicht, die kaum erst Maschinen kennt."

 

Die äussere Aktualität ist also unmassgeblich. Die Probleme jener Menschen sind nicht mehr die unseren. Wie sich die Menschen auf der Bühne jenen Problemen gegenüber verhalten, das kennen wir hingegen, und es beschäftigt uns immer noch. Wenn sich also der Anlass zu den Konflikten auch geändert hat, dass Menschen in Konflikten stehen und auf sie reagieren müssen, ist von ständiger Aktualität. Und da zeigen sich dann Züge wie Feigheit und Mut, Offenheit und Verlogenheit, Geradlinigkeit und Verschlagenheit, die den Zuschauer noch heute ansprechen und ihn vor die Frage stellen, wie er sich selber verhalten würde...

 

Natürlich beschränkt sich Ibsens Qualität nicht auf die Schilderung zeitloser menschlicher Verhaltensweisen. Aber, und das ist wesentlich, durch diese Qualität der genauen Schilderung ist den Schauspielern vorgeschrieben, wie sie zu agieren haben: unauffällig, alltäglich, kurz, mit "Understatement". Und dies bedingt andererseits höchste Differenzierung und sorgfältige Detailarbeit.

 

Eine Schauspielerin hat diese Anforderungen erfüllt und dem Abend die dichtesten Momente gegeben: Die junge Bettina Kuhn als Dina Dorf. Sie spielt – gottseidank – nicht den "Backfisch", auf den sie das Programmheft jargonhaft festgelegt hat, sondern, wie Ibsen wollte, einfach "ein junges Mädchen im Hause Bernicks". Das ganze Innenleben dieses Menschen ist aus Bettina Kuhns Augen, Blicken und Haltung herauszulesen, eine ausgefeilte und bis ins kleinste sinnvolle Darstellung.

 

Exaktes, wohlkonturiertes Spiel auch bei Peter Glauser in der kleinen Rolle des Prokuristen Krap und bei Monika Orthofer, die mir indessen etwas zu sehr auf einen weinerlichen Ton festgelegt war. Dafür brachte sie an der Premiere echte Tränen zustande – etwas, was selbst die ganz grossen Schauspieler kaum hervorbringen.

 

Und dann kommen schon die mittleren Leistungen, bei denen es nichts zu kritisieren, aber auch nichts zu loben gibt. Durchschnittsarbeit, die sich nicht einprägt. Bei einigen ist es die Rolle, die keine Wirkungsmöglichkeiten bietet, bei den andern die Beschränktheit der Ausdrucksmittel – wer mag das schon auseinanderdividieren? Aufzuzählen wären in diesem Zusammenhang: Gerda Zangger, Eleonore Bürcher, Karin Minet, Heidi Diggelmann, Rolf Schwab, Raoul Serda, Hans-Heinrich Rüegg und Hans Schatzmann.

 

Etwas zu aufgeräumt und äusserlich Alf Beinell, und bei Walter Zenhäusern, der an sich wohl in die Rolle passen mochte, fiel es immer wieder schwer zu glauben, der Dilettantismus seines Adjunkten sei gewollt und nicht bloss eine Folge schauspielerischen Ungenügens.

 

Trotz einiger Fragwürdigkeiten, wie die unglaubwürdigen Altersverhältnisse und die Änderung im vierten Akt, hätte man immer noch von einer ansprechenden Aufführung berichten können, wenn es gelungen wäre, ein Erfordernis zu erfüllen: Die Hauptrolle des Konsuls Bernick mit einem Darsteller zu besetzen, der das Ganze herausreisst. Diesen Darsteller hat Regisseur Alex Freihart offensichtlich nicht gefunden. Mit dem Gast Ulrich Hoffmann ist der Part dermassen krass unterbesetzt, dass das Verdienst der Aufführung auf den Umstand zusammenschmilzt, das Stück herausgebracht zu haben.

 

Jetzt freut man sich zwar an Karl Weingärtners Bühnenbild und an den Frisuren von Beatrice Rasinger, am einen oder anderen Darsteller, an der Qualität des Stücks – aber im ganzen überwog doch die Enttäuschung, dass der Stil, den Ibsen verlangt, nicht getroffen wurde.

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