Ballettabend I.

Heinz Spoerli, Ulysses Dove, Hans van Manen. Theater Basel.

Radio DRS-2, Musik aktuell, 24. Oktober 1983.

 

 

Es war der erste Ballettabend dieser Spielzeit, den die Basler Theater herausbrachten. Es war gleichzeitig ein Weg aus dem 19. ins 20. Jahrhundert, ein Weg von Johannes Brahms zu Nina Hagen.

 

Der Abend begann im Finstern. Der Vorhang hebt sich, die Tänzer – fünf Paare – betreten im Dunkel die Bühne. Sie bilden still einen Kreis. Es wird hell. Nun erklingen die ersten Klavierakkorde.

 

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Am Flügel spielt Jonathan Higgins das erste Stück aus den Phantasien op. 116 von Johannes Brahms. Mit der Musik beleben sich die Tänzer. Die Töne erfassen ihre Arme, ihre Körper, zuletzt die Beine. Damit ist die Harmonie des Kreises verloren. Wenn die Tänzer zu schreiten beginnen, brauchen sie Raum. Und indem sie den Raum erobern, verlassen sie den Kreis. So ist das. Musik ist Bewegung, und Bewegung ist Übergang. Die Einheit der Gruppe zerfällt in fünf tanzende Paare.

 

(Musik aus)

 

In den Brahms-Phantasien geht es also um Harmonie. Harmonie, die zerfällt und sich im Zerfall nur noch für Augenblicke herstellt. Heinz Spoerli, der Choreograph, veranschaulicht das in Geschichten, die er seine Tänzer andeuten lässt. Da ist zum Beispiel die Geschichte von der spröden Frau. Sie wird vom Tänzer umworben, ja sie lässt sich sogar von ihm bewegen. Sie macht die Schritte, die zu einem Tanz nötig sind. Aber ihr Blick bleibt abwesend, ihr Gesicht verschlossen. So tanzt das Paar – äusserlich; doch es bildet keine Einheit. Mann und Frau verschmelzen nicht.

 

In der übernächsten Nummer tritt dasselbe Paar wieder auf. Es sind Gilma Bustillo und Charles Maple. Nun sehen wir sie in der Einheit verschmolzen, die vorhin nicht möglich war. Aber je weiter sich die Brahms-Phantasie entwickelt, desto stärker zerfällt das tanzende Paar in zwei einzelne Menschen, die zusammen das Gleichmass nicht mehr finden.

 

Auf feine, verhaltene Weise hat damit Heinz Spoerli die Musik von Brahms in tänzerische Bewegung umgesetzt. Man sieht noch die klassischen Schritte. Aber die klassische Bewältigung des Gegensatzes zwischen Mann und Frau, Tänzer und Tänzerin – diese Bewältigung ist heikel geworden, so wie auch die Harmonien bei Brahms heikel und brüchig geworden sind.

 

Weniger überzeugt hat mich Spoerlis zweite Choreographie, die "Ballade". Wieder liegt ihr Musik von Brahms zugrunde, nämlich die "vier Balladen" op. 10, und wieder sehen wir eine Geschichte. Erzählt wird von der Beziehung zwischen drei Menschen, ihren Wünschen, ihren Eifersüchteleien, ihrer Verzweiflung. – Die Geschichte ist gewiss recht schön, und am Tanz der Protagonisten Otto Ris, Loya Molloy und Philippe Anóta ist auch nichts auszusetzen.

 

Mühe machten mir aber die Äusserlichkeiten. Die Äusserlichkeit des Bühnenbilds zum Beispiel, das Crispin Appius entworfen hat. Von meinem Platz aus konnte ich nicht entziffern, was es darstellt. Eine schwarze Rübe von zehn Metern Länge? Oder ein rein abstraktes, dekoratives Element im Stil von Fernand Léger? Wie auch immer, sein Bezug zur Musik war mir nicht einsichtig.

 

Als weitere Äusserlichkeit störten mich die Kostüme, wieder von Crispin Appius. Sie sind ab 1920 möglich. Aber ich fragte mich: Was haben diese modernen Kleider mit der Musik von 1854 zu tun? Nun ja. Vollkommene Übereinstimmung zwischen Musik, Tanz und Dekoration ist eben ein hohes Ideal... Anderseits ist dieses Ideal in Basel auch erreicht worden, und zwar in der Choreographie von Ulysses Dove. Hier ergab sich die Übereinstimmung von Musik und Tanz schon im Äusserlichen. Die Komposition, die gespielt wird, stammt von Steve Reich. Sie trägt den lakonischen Titel: "Musik für 18 Musiker". Und zu sehen war in Basel: Ein Ballett für 18 Tänzer.

 

Reichs Musik kommt von weit her. Aus der Stille setzt sie ein.

 

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Gleichzeitig erleuchtet sich langsam die Szene. Einförmig vibrieren die Töne. Und voller Spannung vibriert auch die Bühne, die von 18 flackernden Kerzen erhellt wird. Sie sind im Hintergrund aufgestellt, in Reih und Glied. Und davor sitzen 18 Tänzer, das Ensemble, ebenfalls in Reih und Glied, abwechselnd Mann und Frau, so wie auch die Musik regelmässig zwischen zwei Tönen abwechselt. Nun bildet sich im Klangteppich ein Muster, und gleichzeitig werden die Tänzer von einer Bewegung durchzuckt.

 

(Musik aus)

 

Gleich wie in der Musik verhält es sich mit der Choreographie von Ulysses Dove. Auch sie beruht auf dem Prinzip des Gegensatzes. Es geht um den Gegensatz von Starre und Bewegung. Um den Gegensatz von Ensemble und Solist. Um den Gegensatz von Mann und Frau. Um den Gegensatz von klassischen Schritten und Modern-Dance-Elementen.

 

Ein Ballett jedoch, das von so vielen Gegensätzen ausgeht, kann keine Geschichte mehr erzählen. Es zeigt stattdessen Bilder und Geschehnisse. Es zeigt sie traumhaft intensiv, aber auch traumhaft verschlüsselt. Der Verstand kommt nicht mehr mit. Er kann die Elemente nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen. Insofern ist auch der Titel von Doves Choreographie sprechend. "Secret images" nennt er die Aufführung. Und geheime Bilder sind es, die wir sehen. Sie wecken die Erinnerung an die Welt des Traums, die ja auch geheimnisvoll und deutlich ist. Für die Uraufführung dieser Choreographie bedankte sich das Basler Publikum mit anhaltendem Applaus und lauten Bravorufen.

 

Ebenso begeistert wurde die letzte Produktion aufgenommen, "In and out", choreographiert von Hans van Manen. Die Musik stammt von Laurie Anderson und Nina Hagen. Ich blende jetzt ein Stück der österreichischen Sängerin ein.

 

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Wir vernehmen eine klassisch geschulte Gesangsstimme. Und wir hören, wie sie den ariosen Stil der grossen Oper parodiert. Mit andern Worten: Diese Stimme nimmt nicht ernst, was sie singt. Sie meint es ironisch. Ironisch ist ja auch der Titel des Stücks: "Naturtränen", heisst es, und dabei ist der Gesang gar nicht natürlich, sondern künstlich.

 

(Musik aus)

 

Parodistisch zu verstehen sind auch die Spiele, die Hans von Manen auf dem Theater inszeniert. Wenn der Vorhang aufgeht, blicken wir auf drei grosse Kisten in der Mitte der Bühne. Sie erinnern an drei grosse, offene Liftkabinen. Nun tritt das Ensemble auf, ein Tänzer nach dem andern, alle schreiten in die linke Kiste, bis sie voll ist, voll wie eine Spielzeugschachtel.

 

Jetzt erst setzt die Musik ein, die Damen und Herrn purzeln heraus und setzen sich rhythmisch in Bewegung wie Marionetten. Auch hier wird keine Geschichte mehr erzählt. Sondern der Choreograph entwirft ein Spiel der Bewegungen und Formen, die Tänzer sind sein Material, aber er spiel auch mit den Kostümen, die schöne farbliche Muster ergeben, er spielt mit dem Licht, das aufblitzt oder eine Gasse ins Dunkel schneidet. Und Hans van Manen spielt auch mit der Sprache. Denn die Lieder der Laurie Anderson und der Nina Hagen haben Worte. So erstaunt es nicht, dass bei all dem Spiel selbst die Tänzer plötzlich aus der Rolle fallen. Sie schreien, lachen, gestikulieren. Dann tanzen sie mit gespielter Seriosität weiter, als Parodie auf sich selbst, und als Parodie auf den Ernst des klassischen Balletts.

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