Die Nacht vor Weihnachten. Nikolai Rimski-Korsakow.
Oper.
Vladimir Jurowski, Barrie Kosky, Klaus Grünberg. Bayerische Staatsoper, München.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Dezember 2025.
> An der Aufführung sind alle vortrefflich – bis auf zwei Ausnahmen: die Oper und die Inszenierung. Das Orchester ist untadelig. Der Chor eine Wucht. Die Sänger eine Wonne. Der Dirigent ein Star (Honorary Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire, ernannt von König Charles III.). Aber das Werk! Zum Einschlafen. Und die Inszenierung: Erzkonservativ. Es hat also schon seinen Grund, dass "Die Nacht vor Weihnachten" vergessen wurde. Sie ist nicht wiederzubeleben. <
Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Komponisten. Nikolai Rimski-Korsakow hat sich überschätzt, als er meinte, ihm sei das Talent gegeben, eine Erzählung von Nikolai Gogol namens "Die Nacht vor Weihnachten" zum Libretto für eine gleichnamige Oper auszugestalten. Vor seinem inneren Auge sah er das Gemälde, mit dem er das russische Dorfleben wiedergeben wollte. Ihn lockte die Möglichkeit zur Verarbeitung volkstümlicher Motive, und er wollte sie in Kontrast setzen zum Palast mit der Zarin. Das Werk sollte einen Hofchor und einen Bauernchor gegenüberstellen. Doch der Komponist kannte seine eigenen Schwächen nicht. Die von ihm unbeholfen konstruierten Bilder machen die Oper langweilig. Da liegt das Problem.
Rimski-Korsakows Vorstellung von guter Musik ist eng. Wie alle Konservatoriumsdirektoren sieht er sich angehalten, Vorbildliches zu liefern. Er zeigt in "Scheherazade", wie sich aus der Variation eines einzigen Themas eine halbe Stunde abwechslungsreicher Tonkunst gewinnen lässt, und dort steigert er das Malen mit Orchesterfarben zur Perfektion. Damit macht er den Westlern etwas vor und wird zum Vorbild für Debussy, Ravel, Dukas, Respighi.
Und jetzt schreibt er sein eigenes Libretto. Er denkt dabei im erster Linie an die Musik, nicht an die Handlung. Die bietet ihm bloss den Vorwand für den Gesang. Mit diesem Ansatz kommt Rimski-Rimski bei weitem nicht an Mozart-da Ponte, Strauss-Hofmannsthal oder Offenbach-Meilhac und Halévy heran. Seine ungelenke Dramaturgie aber stellt das Theater vor die Frage: "Was machen wir, wenn nichts läuft?"
Regisseur Barrie Kosky und Bühnenbildner Klaus Grünberg entscheiden sich zur Antwort: "Ablenken!" Ihre Szene besteht aus drei Stockwerken. Dazu schwebt aus dem Schnürboden noch die Zarin auf einem silbernen Doppeladler-Thron herab. Acht Ballettratten umwuseln einen Teufel und eine Hexe. Sechs Turner bieten Akrobatik, zwei von ihnen gar am Seil. Dazu füllen die hundert festangestellten Mitglieder des bayerischen Staatsopernchors aus 23 Ländern enggedrängt die Szene wie die Besucher des Weihnachtsmarkts am Marienplatz, begleitet von einigen niedlichen Kinderstatisten, von denen die einen voll im Spiel aufgehen, die andern hingegen vergessen, wo sie sind. Aber wie auch immer: Die Kleinen bieten die Glanzpunkte.
Linke und Woke müssten gegen das heteronormative Rollenbild des Komponisten protestieren. Sie müssten das Klischee an den Pranger stellen, dass sich die schönste Frau des Dorfs dem muskulösen, schönen Schmied anbietet unter der Bedingung, dass er ihr die Schuhe der Zarin zu Füssen legt. Sie müssten die autoritär-hierarchische Gesellschaftsstruktur denunzieren und dagegen aufstehen, dass das Säuferelend durch pittoreske Lustigkeit verniedlicht wird (was wenige Jahre später Tschechow und Gorki tun werden). Sie müssten verlangen, dass sich die Inszenierung dem Werk gegenüber kritisch verhalte, indem sie einen doppelten Boden einziehe. Aber von der Bayerischen Staatsoper, wo das Publikum in jeder Vorstellung eine Diamantenschau darbietet und BMW den "Global Partner" abgibt, erwartet das niemand. Und bei der "Nacht vor Weihnachten" unterbleibt's. Die Vorstellung beschränkt sich auf plattes, kundenfreundliches Ausstattungstheater.
Nun könnte man sagen: "Aber die Musik!" Und was die Ausführungsebene betrifft, wird in der Tat Vorzügliches geboten. Die Sänger sind eine Wonne (Spezialvermerk für Elena Tsallagova als Dorfschöne und Sergey Skorokhodov als Schmied). Der Chor eine Wucht. Das Bayerische Staatsorchester untadelig. GMD Vladimir Jurowski zeigt exaktes Mass in Agogik und Dynamik. Trotz zweihundert Mitwirkender auf der Bühne und im Graben ist – dem Niveau des Hauses entsprechend – kein einziger Wackler zu hören. Vortrefflich. Aber das Werk!
Anders als beim "Märchen vom Zaren Saltan" mit seinem "Hummelflug" ist es Nikolai Rimski-Korsakow in der "Nacht vor Weihnachten" nicht gelungen, einen Ohrwurm zu schreiben. So trifft auf dieses Werk denn speziell zu, was Percy A. Scholes unter dem Stichwort "Quality in Music" im "Oxford Companion to Music" ausgeführt hat:
Gute Musik hat Leben, schlechte Musik oft nicht. Es ist einfacher, diese Eigenschaft zu erkennen, als sie zu definieren. Eine Melodie, die ziellos umherwandert, ist nicht lebendig.
Wahrscheinlich weist nicht ein Zehntel der "populären" oder ernsten Musik, die heute oder zu irgendeiner Zeit produziert wird, diese Eigenschaft auf, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dazu führt, dass man ein Werk als "inspiriert" oder lediglich als "gemacht" empfindet.
Es gibt nichts zu rütteln: "Die Nacht vor Weihnachten" ist "gemacht", nicht "inspiriert". Man kann sie ohne Gewissensbisse ignorieren.
Höllenwesen, Teufel, Hexe.
Das festlich Ballet.
Das glückliche Paar.
