Brahms und Tschaikowsky.
Erstes Klavierkonzert und vierte Symphonie.
Kirill Petrenko, Daniil Trifonov. Bayerisches Staatsorchester, München.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Dezember 2025.
> Am 8. Dezember 2025 wiederholt das Bayerische Staatsorchester in München das Hauptstück seines Programms vom 13. März 1874: Das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms. Damals stand Hermann Levy am Pult, und der 41-jährige Komponist sass am Klavier. Nun wird das Werk interpretiert mit den Namen, die heute gross sind: Kirill Petrenko als Dirigent und Daniil Trifonov als Solist. <
Das Konzert findet im Nationaltheater statt. Hier laufen die Vorstellungen der Bayerischen Staatsoper. Die Akustik ist diesem Betrieb angepasst; folglich recht trocken; für Konzerte zu trocken. Der Klang wirkt zwar durchhörbar, überschreitet aber im dreifachen Forte die Schmerzgrenze. Das merkt man nach der Pause, wo Tschaikowskys vierte Symphonie gegeben wird. Vor der Pause jedoch, beim ersten Klavierkonzert von Brahms, ist der Pegel einwandfrei.
Kirill Petrenko, seit sechs Jahren Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, war zuvor sieben Jahre lang Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Mit deren Orchester hat er bislang zwanzig Akademiekonzerte bestritten – also Aufführungen, bei denen die Musiker aus dem Graben aufs Podium steigen und unter Beweis stellen, dass sie auch grosse Symphonik zu meistern verstehen. Die famose Wendigkeit der Opernorchester, sich dem Geschehen auf der Bühne blitzschnell anpassen zu können, erweist sich in der messerscharfen Akkuratesse der Schlusskadenzen, in der Kompaktheit der Register und im traumhaft sicheren Zusammenspiel mit dem Klaviersolisten Daniil Trifonov.
Imponierend sind die Bläser. Ihre Sicherheit zeigt: Uns kann man nichts vormachen. Wir sind es, die etwas vormachen! Mit zartem Hauch begleiten sie die perlenden Läufe des Klaviers; dann wieder setzen sie markante, eigenständige Akzente. Und erst die hohen Streicher! Im Diminuendo gleiten sie hinunter zu körperlich greifbarer, samtener Wärme, und im Forte übernehmen sie die Führung mit einer Mischung von Energie und strahlendem Gold. Ausdrucksreich interagiert das Orchester mit Daniil Trifonovs Solopart, der sich als belebter Organismus, nachdenkliche Klangrede und verschleiertes Bekenntnis gestaltet.
Zusammengehalten wird der Konzertabend durch Kirill Petrenko. Seine Meisterschaft macht schon nach wenigen Takten erlebbar, was unter dem Klang liegt: die Tiefenstruktur der Komposition. Sie fliesst wie ein unsichtbarer Grundgedanke durch die Instrumentalisten und entlockt ihnen tausend Farben. Dergestalt halten sich feingestufte Formdetails und Fasslichkeit der Gesamtaussage die Waage.
Um die Bedeutung des 2. Akademiekonzerts für ihn auszudrücken, muss der Kritiker auf den amerikanischen Dichter Edgar Allan Poe zurückgreifen. Ihm begegnete eines Tages der Schriftsteller William Roth Wallace in den Strassen von New York. Poe rief ihm zu:
"Wallace, ich habe soeben das grösste Gedicht geschrieben, das je geschrieben worden ist." [Es handelte sich um den "Raben".]
"So? Das ist ein schöner Erfolg."
"Möchten Sie es hören?"
"Aber sicher."
Daraufhin begann Poe, die bald Berühmtheit erlangenden Verse auf seine beste Art und Weise vorzulesen, die immer beeindruckend und fesselnd war. Als er den Vortrag beendet hatte, wandte er sich an Wallace, um seine Zustimmung einzuholen. Wallace sagte:
"Poe, das ist gut; ungewöhnlich gut."
"Gut? Ist das alles, was Sie über dieses Gedicht sagen können? Ich sage Ihnen, es ist das grösste Gedicht, das je geschrieben worden ist."
(Joel Benton.)
Etwas Entsprechendes erlebte nun der Kritiker aus Bümpliz und der Welt in Gesellschaft seiner Begleiterin am 2. Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters, 125 Jahre nach der Aufführung des ersten Klavierkonzerts von Johannes Brahms in München mit Hermann Levi am Pult und dem Komponisten am Klavier.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.
(Fernand Braudel.)
Kirill Petrenko, der Dirigent.
Daniil Trifonov, der Solist.
