Musik und Theater in München

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Dezember 2025.

 

* Sauhund. Lion Christ. (UA)

Romanadaptation.

Florian Fischer, Robin Metzer, Jacqueline Koch. Münchner Kammerspiele.

 

> Der bayerische Simplicius heisst Flori. Er stammt aus einer mittelgrossen Provinzstadt namens Wolfratshausen. In die Welt jagt ihn nicht der Krieg, sondern der Trieb. Und nicht mehr Kugeln sind es, die ihn und seine Kameraden bedrohen, sondern die humanen Immunschwäche-Viren HIV. Der Untertitel der Aufführung fasst die Situation zusammen: "80er in München: gay, vom Land, lebenshungrig". <

 

Die Aufführung ist gezeichnet von der Stärke und Schwäche des Theaters. Die Stärke kommt gleich ins Blickfeld: Vermittlung der Welt durch Menschen. Elias Krischke tritt vor den Vorhang und beginnt zu reden. Im Kostüm von Jacqueline Koch zieht er den Blick auf sich. Und schon steht Flori da. Mit dem Mut der Scheuen zitiert er die Annonce, die er 1983 in der Zeitschrift "Adam" aufgegeben hat: "Suche liebevollen Freund." Die Zerbrechlichkeit, Naivität und Verlorenheit eines jungen Schwulen finden hier ihren Ausdruck und erreichen den Zuschauer.

 

Unvermittelt tritt Edmund Telgenkämper hinzu. Man kann gleich erfassen, um was für einen Typ es sich handelt: Maskulin auftrumpfender Möbelschreiner. Auch er wird getrieben: aber nicht vom Liebesbedürfnis, sondern von der Sexualnot. Er sucht nicht Zärtlichkeit, sondern Entladung. Um seine Gestalt zu umreissen, genügen ein paar wenige Striche: Rasches Neigen des Kopfs, kräftige Dehnung der Schultern, und schon kommt es zu Floris Entjungferung.

 

Simplicius Simplicissimus alias Flori zieht nach München in die Grossstadt. Der wortkarge Abschied von der Mutter greift ans Herz. Das Paar spielt sich etwas vor, und lastend dehnt sich das Ungesagte aus. Schauspielerin Annette Paulmann setzt durch Pausen, Abwendung des Blicks und hängende Arme schmerzhafte Akzente. Mit feinem Gefühl für das Minimum regelt Regisseur Florian Fischer das Spiel von Nähe und Distanz. Später bringt wirksames Auf- und Niedergleiten von Vorhängen, durchsetzt mit Videocollagen (Robin Metzer), die schwule Road- und Geschichtsnovel in Fahrt bis zur Einmündung in die AIDS-Katastrophe.

 

Die Schwäche des Theaters, vom Publikum in Form von Längen wahrgenommen, ergibt sich im konkreten Fall durch den Mangel an den Spurenelementen Strenge und Struktur. Er wiederum erklärt sich durch den Umstand, dass zu viele Köche an der Romanadaptation mitgewirkt haben, nämlich alle Beteiligten: Die drei Schauspieler, der Regisseur, der Bühnen- und Videomann, der Konzept- und Musikmann sowie die Dramaturgin. Insgesamt also sieben Leute. Und das schafft das Problem.

 

Der 2023 im Hanser Verlag erschienene Debütroman von Lion Christ hat 368 Seiten. Die Aufführung an den Münchner Kammerspielen aber dauert bloss anderthalb Stunden (anstatt sieben Tagen). Das bedingt Auswahl. Ihr fällt viel Stoffliches zum Opfer. Aber auch Formales. Die Bühne kommt anders vom einen zum andern als das Buch. Wirksamkeit ist ihr wichtiger als Begründung. Das führt zu einer episodenhaften Erzählweise, bei der die Schnipsel in Raum und Zeit flottieren. Manche Frage bleibt offen: Wie kommt Flori von A nach B? Und wann? Wo befinden sich A und B? Wovon lebt der Bursche? Und was gibt es am Schluss aus ihm? Strukturell (nicht geographisch) fehlt es an Verortung und Verfugung. Deshalb wirkt die Romanadaptation letzten Endes flau.

 

Wohl bietet "Sauhund" ein Kaleidoskop der Lebensumstände in den 1980er Jahren, doch Kaleidoskop bedeutet Huschhusch. Reduktion im Sinne von "less is more" würde Vertiefung bringen, aber auch verlangen. Jetzt weckt die Aufführung vor allem ein Gefühl ungestillten Lebenshungers. Anderseits erleben das auch viele Menschen im Saal. Insofern dient der Besuch von "Sauhund" den Normalen und Angepassten zur Selbstbefragung.

 

 

*** Die Nashörner. Eugène Ionesco.

Schauspiel.

Anna Marboe, Helene Payrhuber, Sophia Profanter, Felicia Nilsson, Vincent Sauer. Volkstheater München.

 

> Die Aufführung ist so diabolisch wie das Stück. Sie holt die Leute im Saal dort ab, wo sie stehen, und verführt sie zum blinden Mitmachen. Im konkreten Fall lautet die Zauberformel AIDA: "attention, interest, desire, action". Bertolt Brecht fasste das Resultat in die Verse: "Hinter der Trommel her / Trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel / Liefern sie selber". Bei den "Nashörnern" handelt es sich freilich nicht um Kälber, sondern um Deutsche. Aber das Phänomen gibt zu denken. <

 

Eugène Ionescos Schauspielklassiker aus dem Jahr 1957 führt in eine stille französische Kleinstadt. Da gibt es die Brasserie mit der Terrasse, auf der sich die Bürger zu Suze und Pernod treffen. Doch im Münchner Volkstheater ist die Pagnol-Folklore gestrichen. Bühne und Kostüme von Helene Payrhuber und Sophia Profanter bringen keine Gemütswerte, sondern Abkürzungen. Die Bistrot-Einrichtung ist reduziert auf zwei Aluklappstühle. Das Büro besteht aus einer viereckigen Abschrankung, ein paar Blättern und einem grotesk wirkenden Lochstanzer. Den Kirchplatz bildet eine simple Hausfassade, flach wie Karton und rudimentär wie eine Kinderzeichnung. Die Musik von Vincent Sauer zitiert nicht den Klang von Charles Trenet, sondern den deutschen Privatradio-Sound.

 

Auf der leeren Bühne ertönt jetzt:

 

Das Leben als Nashorn. Kanon. Text von Anna. Musik von Vincent.

 

Leben als Nashorn

Das Leben macht Spass

Nashörner

Nashörner

Nashorn

Oh ein Nashorn

Das macht Spass

 

Was anfangs albern wirkt, entwickelt unmerklich Sog. Vor drei Wochen tauchte an einer Wagner-Aufführung in der Salzburger Felsenreitschule das erste glitzernde Damenhütchen auf. Heute zieht in jedem Lokal ein Glitzerkleid die Blicke auf sich. Was Wunder, dass im Münchner Volkstheater, wo alle Figuren (bis auf eine) Nashörner geworden sind und ein Heer von Statisten die Chiffre für die Seligkeit formt, im Schwarm zu schwimmen, das Publikum am Ende der Vorstellung rhythmisch in die Hände klatscht und das Nashornlied singt? Es gibt nichts Schöneres, als dazuzugehören und wie die andern zu sein. Die immerwährende Aktualität der Klassiker.

 

Vier Kriterien belegen die Qualität der Produktion: 

  1. Die Ausstrahlungskraft der beiden Hauptfiguren Behringer (Béringer) und Hans (Jean). Maximiliane Hass und Nils Karsten sind sprecherisch einwandfrei. 
  1. Die Eigenständigkeit der Regie. Anna Marboe verwendet zwar wie alle das Vokabular des aktuellen deutschen Sprechtheaters mit gleichgeschaltetem Ensemble, Genderumkehr und choreographischer Bewegungsführung (geregelt von Felicia Nilsson), aber sie stellt die Elemente in den Dienst eines Ziels: "Wetten, dass ich euch zum Mitmachen verführen kann?" 
  1. Der Wechsel der Töne. Er realisiert sich in der Abfolge von Gegensätzen wie hoch und tief, fern und nah, bewegt und statisch, vereinzelt und eingebunden. Wenn der Wechsel eine Struktur schafft und eine Folge bildet, ist Exzellenz am Werk. 
  1. Der Umgang mit dem Raum. Begabte Theaterleute haben ein Gespür für ihre Bühne. Sie bespielen sie in allen Dimensionen, und am Ende zeigt sich, dass die Produktion nur in dieses bestimmte Haus passt. In der Kleiderbranche nennt man das "Massanfertigung". 

q.e.d.

 

 

Play Auerbach! Avishai Milstein. (UA)

Eine Münchner Erinnerungsrevue.

Münchner Kammerspiele.

 

> Mit der Erinnerungsrevue "Play Auerbach!" fragen die Münchner Kammerspiele, "warum der Antisemitismus den Zweiten Weltkrieg überlebte und warum er heute wieder so sprunghaft angestiegen ist". Doch am Abend der Uraufführung wird das Projekt schon von der Aktualität überholt: Irland, Holland, Slowenien und Spanien teilen mit, dass sie den europäischen Gesangswettbewerb boykottieren werden, weil Israel am ESC zugelassen bleibt. Belgien, Island, Schweden und Finnland beabsichtigen, der Veranstaltung ebenfalls fernzubleiben. Den Anstoss bildet der Massenmord an der palästinensischen Zivilbevölkerung durch den jüdischen Staat im Rahmen des Gaza-Kriegs. Von dieser Wurzel des Antisemitismus spricht die Erinnerungsrevue nicht. Deshalb wird die Aufführung unbefriedigend. "Schwierige Sachen sind schwierig." (Walther Killy). <

 

Als die Münchner Kammerspiele den Entschluss zu "Play Auerbach!" fassten, bewegte sich die Welt noch in einigermassen geordneten Bahnen. Der amerikanische Präsident hiess noch Joe Biden. Die Interaktion zwischen den Staaten lief noch nach Regeln. WHO und IKRK konnten den Ärmsten noch helfen. Die deutsche Wirtschaft legte noch zu. Von existenzbedrohenden Subventionskürzungen im Münchner Kulturetat war noch nicht die Rede. Die Hamas hielt das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung noch auf der Planungsstufe. Wenn damals von "Schuld" die Rede war, blickte man zurück.

 

In jener Zeit wählte Autor Avishai Milstein für seine "Münchner Erinnerungsrevue" das Jahr 2045. Er ging von der Annahme aus, an diesem Zukunftsdatum werde man auf das Weltkriegsende zurückschauen und damit auch auf die Befreiung der Juden aus den Konzentrationslagern. Man werde fragen, warum die Überlebenden Bayern gemieden hätten und stattdessen nach Amerika und Palästina ausgewandert seien.

 

Die Kombination dreier Zeitebenen (1945: zerbombtes München, 2025: gegenwärtiges München, 2045: künftiges München) schien dem Revueautor Raum für ein humorvolles, kritisches und selbstironisches Spiel mit der Judenfrage zu bieten.

 

Humor ist der effizienteste Schutzwall, den es gibt. Ich wünsche mir tatsächlich, dass statt Raketen Witze geschossen würden, und Gegenwitze statt Abfangraketen.

 

Avishai Milstein wählte als Form das Theater im Theater: Eine Amateurtruppe, wiedergegeben von den Profis der Kammerspiele, probt 2045 eine Revue über die Persönlichkeit und die Vision Philipp Auerbachs in dem seit 2030 stillgelegten Haus an der Maximilianstrasse. (Zu dem Zeitpunkt sollen die Subventionskürzungen das Ende der Münchner Bühnen gebracht haben.)

 

Durch den Beitritt eines unangemeldeten Fremden, der als Jude den Juden Auerbach zu verkörpern begehrt, wird die gespielte Imperfektion in die gespielte Improvisation hinaufkatapultiert. Angesichts der verschachtelten Konstruktion spricht Dramaturgin Viola Hasselberg von einer "auf der Rasierklinge des schwarzen Humors balancierenden Erinnerungsrevue".

 

Doch im Saal lacht niemand. Das Thema ist zu ernst. Philipp Auerbach, überlebender KZ-Häftling, versuchte nach dem Krieg, Deutsche und Juden durch Wiedergutmachung zu versöhnen. Aber 1952 verurteilte ihn ein Richterkollegium, das aus ehemaligen Nazis bestand, zu zweieinhalb Jahren Haft. Daraufhin nahm er sich das Leben: "Ich kann dieses entehrende Urteil nicht weiter ertragen." Zwei Jahre später rehabilitierte ihn ein Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags vollumfänglich. Die Geschichte spiegelt das problematische Verhältnis zwischen Deutschen und Juden.

 

Doch der Inhalt ist eins, die Form ein anderes. Dass die Revue nicht trägt, liegt an ihrem schwachen Fundament: Die Probe einer Laientruppe mit ihrem Gemenge von Stück- und Kommentarpartikeln bringt nun mal Breite und Betulichkeit anstelle von Rasanz, Perfektion, Biss und Schmiss. Und das Übereinanderstapeln von Metaebenen steigert die Schwerfälligkeit zusätzlich. Deshalb wird die Aufführung unbefriedigend. Das ist elementar, mein lieber Watson.

 

 

*** Gschichtn vom Brandner Kaspar. Franz Xaver Kroetz. (UA)

Volksstück in vier Akten.

Philipp Stölzl, Michael Gumpinger, Simon Wimmer. Residenztheater München.

 

> Seit zwanzig Jahren zeichnet Philipp Stölzl gleichwertig für Bühnenbild und Regie. Man merkt es seinen Inszenierungen an. Nicht nur zeigen sie einen extra feinen Schliff, nicht nur haben sie eine beeindruckende Einheitlichkeit, sondern stets herrscht in ihnen eine eigentümliche Stille, selbst wenn es Musik dazu gibt (diesmal von Michael Gumpinger). Mit dieser Stille steht das Bühnengeschehen vor der Ewigkeit (für Lateiner: sub specie aeternitatis). Und aus dieser Dimension kommt Stölzls Kunst. Auch in den "Gschichtn vom Brandner Kaspar". <

 

Franz Xaver Kroetz hat im Auftrag des Bayerischen Staatsschauspiels die Erzählung zum vieraktigen Volksstück ausgestaltet, die Franz Wolffgang Ritter von Kobell, Professor der Mineralogie an der Universität München, in den "Fliegenden Blättern" von 1871 veröffentlicht hat:

 

Der Kasper sagt: "Was geits, was willst?"

 

Na der ander: "Kasper, i bin der Boanlkramer und ho di fragn wolln, ob d' net ebba mit mir geh willst?"

 

"So? Der Boanlkramer bist, na Bruder, i mag nit mitgeh, gfallt mir no ganz guat auf der Welt."

 

"Denkt hab i ma's" sagt der Boanlkramer, "aber holn muass i di do amal, was moast ebber in Frühjahr?"

 

"Waar nit aus in Fruajahr, wo der Ho'falz is und der Schnepfastrich und die kloan Vögerln am schönsten singa, na, dees war ma zwider."

 

"Oder in Summa?"

 

"Nix Summa, da hon i mit der Rehbirsch Arbet und is aa z'hoasss."

 

"Oder in Hirgscht?"

 

"Ja, was fallt dir denn ei, ha narret, soll i d Hirschbrunft hintlassen, und die Klopfeter und 's Oktoberschiessn, waar nit aus!"

 

"No also, nacher in Winter?"

 

"Da mag i aa nit, schau 's Fuchspassen und 's Moderausjagn is mei extragi Freud und is in Winter aa z' kalt."

 

"Ja, willst denn du ewi lehn? Dees toats nit, Kasper."

 

Der Dialog entfaltet eine existentielle Situation. Der Tod klopft an, und der Mensch will ihm nicht folgen. In dieser Form stellt die "G'schicht vom Brandner Kasper" die Frage nach dem Ende des Lebens und dem Übergang in die Ewigkeit.

 

Ohne den geringsten Anhauch von Überheblichkeit erfindet Philipp Stölzl am Münchner Residenztheater für den "Brandner Kaspar" eine Bildfolge, bei der Innigkeit, Ergebenheit und Humor auf wundersame Weise ineinander verschmelzen. Die Inszenierung spielt mit dem Grauen, das wir beim Gedanken an den Tod verspüren, und wählt dafür den naiven Stil der Bauernmalerei. Fein werden die Züge ins Bild gesetzt. Und in der sensiblen Bemessung der Pausen erweist sich der Meister. Fingerspitzengefühl von der höchsten Spielintelligenz.

 

Im vierten Akt bringt Simon Wimmers Video den Höhepunkt: Der Boanlkramer setzt sich gemütlich zum Kaspar aufs Bett, und dann heben die beiden von der Erde ab zu einer schwindelnden Fahrt durch Meer und Hölle bis in den Himmel, von dem der Alte nicht mehr zurückkehren mag:

 

I bleib da und will nix mehr wissen von der Welt drunt und sag Herr vergelts Gott tausendmal, dass ma die Gnad worn is, dass i da her kemma bi.

 

Das Spiel von Leben und Tod mündet in die Erkenntnis: "Siehe, es war gut so." Gerade heute, am Nikolaustag, vermerkt die "Süddeutsche Zeitung" auf der Titelseite: "Alle sind so müde. In dieser krisengeschüttelten Zeit kämpfen viele gegen ein Gefühl der Erschöpfung." Wie gut ist es da, an den "Gschichtn vom Brandner Kaspar" Halt finden zu können! Und der Kritiker aus Bümpliz und der Welt schreibt ins Gästebuch:

 

Lieber Andreas Beck, lieber Franz Xaver Kroetz, lieber Philipp Stölzl, lieber Simon Wimmer, lieber Felix von Manteuffel (Kaspar), lieber Florian von Manteuffel (Boanlkramer): Vergelts Gott tausendmal, dass i da her kemma bi.

 

 

*** Warten auf Godot. Samuel Beckett.

Schauspiel.

Claudia Bauer, Andreas Auerbach, Vanessa Rust, Michael Gumpinger, Gerrit Jurda, Jonas Alsleben. Residenztheater München.

 

> Das Programmheft bringt die grossen Namen der Beckett-Exegese: Martin Esslin, Gerhard Stadelmaier, Günther Anders, Pierre Temkine. Sie beleuchten "Warten auf Godot" aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Diesem Ansatz folgt auch Claudia Bauers Inszenierung am Münchner Residenztheater. Sie erkundet zusammen mit vier starken Schauspielern die Wirkung der Perspektive. Dabei gestaltet sie die Dämmerung des zweiten Akts so beklemmend, als brächte sie aller Tage Abend. <

 

Die ästhetischen Wurzeln von "Warten auf Godot" reichen zurück bis zu Hamlet, Don Juan und Faust, wenn wir Charles-Augustin Sainte-Beuves Ansicht folgen. Er war "einer der entscheidensten, aber auch problematischsten Literaturkritiker der modernen Literaturgeschichte" (Helgard Brauns). Gegen ihn schrieb Marcel Proust zwischen 1908 und 1910 "Contre Sainte-Beuve". Der legendäre Essay machte den Namen des Angegriffenen unsterblich.

 

Das Opus Magnum des Kritikers jedoch kennt nur noch die Spezialforschung: "Port Royal". So heisst Sainte-Beuves Darstellung des Jansenismus. "Die geistesgeschichtlichen Thesen dieses Werks prägten noch bis ins 20. Jahrhundert, zumeist indirekt, unsere Sicht des französischen 17. Jahrhunderts wesentlich mit" (Christoph Dröge). Die sechs Bände erschienen zwischen 1840 und 1859. Im Anhang des letzten Bandes finden sich Sätze, die direkt zu "Warten auf Godot" führen. Sainte-Beuve beschreibt – 166 Jahre vor unserer Zeit – die Situation, in der wir uns heute befinden:  

 

Früher, in der Literaturepoche des Regelmässigen, die klassische genannt, galt als bester Dichter, wer das perfekteste, schönste Gedicht geschaffen hatte, das klarste, das angenehmste zum Lesen, das vollendetste in jeder Hinsicht, die "Aeneis" [Vergil], "Jerusalem" [Tasso], eine schöne Tragödie. Heute will man anderes. Der grösste Dichter ist für uns, wer in seinen Werken dem Leser am meisten zu imaginieren und zu träumen gab, wer ihn am meisten anspornte, selber zu poetisieren. Der grösste Dichter ist nicht, wer es am besten gemacht hat: es ist, wer am meisten suggeriert, bei dem man anfänglich nicht recht weiss, was er hat sagen und ausdrücken wollen, der uns viel zu wünschen übriglässt, zu erklären, zu grübeln, viel selber zu vollenden. Es gibt nichts Höheres, um unsere Bewunderung zu wecken und zu nähren, als die unfertigen und unauslotbaren Dichter: denn heute will man, dass die Poesie im Leser sei, fast in gleichem Mass wie im Dichter. Seit die Kritik geboren und gross wurde, überflutet sie alles, überbietet sie alles, sie liebt die dichterischen Werke nicht, die rundum vom Licht umflossen und vollkommen sind; damit kann sie nichts anfangen. Das Unbestimmte, das Obskure, das Schwierige, wenn es sich mit einiger Grösse vereinigt, ist eher ihre Sache. Sie braucht Stoff zum Konstruieren und Schaffen für sich selbst. Sie ist überhaupt nicht verärgert, wenn sie einen Knäuel zu entwirren hat und wenn man ihr von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten macht. Es missfällt ihr nicht zu spüren, dass sie ihrerseits in ein Schaffen kommt. Wenn ich sie einmal gesehen und bewundert habe in der Reinheit ihrer Zeichnung und ihres Umrisses, was soll ich da noch sagen zu Dido und Armida, Bradamante oder Clorinde, Angélique oder Herminie? Sprecht zu mir von Faust, von Beatrice, von Mignon, Don Juan, Hamlet, diesen Figuren mit zwei- oder dreifacher Bedeutung, Diskussionsgegenstände, in gewisser Hinsicht geheimnisvoll, undefiniert, unvollendet, dehnbar, ständig wechselnd und veränderlich: Sprecht zu mir von dem, was Grund und Vorwand gibt zu ewigen Grübeleien und endlosen Betrachtungen. Wenn man "Le Lutrin" [von Boileau] oder "Athalie" [von Racine] gelesen hat, wurde der Geist erholt oder erhoben; man hat ein nobles oder feines Vergnügen genossen; doch alles ist gesagt, vollendet, fertig, unverrückbar; und dann ... gibt es hier nichts Rätselhaftes; alles erscheint recht flach.


 

Was Sainte-Beuve 1859 im Anhang von "Port Royal" niedergelegt hat, findet sich, 110 Jahre später, in Theodor W. Adornos "Ästhetischer Theorie" wieder – dort zum Grundsatz erhoben:

 

Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache. ... Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.

 

Das Rätsel nun, welches Samuel Beckett mit "Warten auf Godot" formuliert hat, beleuchtet Claudia Bauers Inszenierung von verschiedenen Seiten her. Dafür dreht sich Andreas Auerbachs geneigtes Podest in alle Richtungen, und die Beleuchtung von Gerrit Jurda wechselt unablässig die Farbe. Die Kostüme von Vanessa Rust führen vom klassischen Godot-Stil übers phantastische Märchentheater bis hinüber zu Disneyland und Horrorstück.

 

Dass es sich bei der Aufführung um eine Versuchsanlage handelt, zeigen die nackten Leuchtröhren, die metallenen Gerüststützen, der aufgeschlagene Spannteppich – und der Schminktisch, an dem sich Florian von Manteuffel und Max Rothbart für die Rollen von Wladimir und Estragon bereitmachen. Dann beginnt das Stück unter dem Auge des Urhebers.

 

Samuel Becketts KI-generierter Kopf (Video Jonas Alsleben) spricht die Regieanweisungen. Beim Schreiben erwägt der Autor die Darstellungsmöglichkeiten. Was das Theater zeigt, ist demzufolge nicht fest, nicht definitiv, sondern flüssig: Im Moment erscheint der Gang der Handlung so, doch könnte er sich auch anders gestalten. Auf diese Weise spiegelt die Mikrostruktur der Aufführung die Makrostruktur der Vorlage: Im ersten Akt ist der Baum kahl, im zweiten belaubt. Im ersten Akt erscheint Pozzo als machtbewusster Herr, im zweiten als hilfloser Blinder. Im ersten Akt kann Lucky sprechen, im zweiten ist er stumm.

 

Der intellektuelle Ansatz von Stück und Inszenierung kommt ins Gleichgewicht durch die Kraft, welche aus den Szenen aufsteigt und den Zuschauer in seiner Gefühlstiefe anspricht. Aus dem Zusammenspiel von Raum, Beleuchtung, Musik (Michael Gumpinger) und Kontext einerseits – und der bemerkenswerten Interpretation der Rollen von Pozzo und Lucky anderseits erwächst die phantastische Wirkung dieses "Godot". Verkörpert durch Lukas Rüppel erscheint Lucky nicht als Wrack, sondern als halb vergrabene, aber zum Platzen gefüllte Landmine. Und Michael Goldberg zeichnet Pozzo als Primadonna assoluta, deren Sirenengesang das Publikum gefangennimmt.

 

"Wie war das Theater?", fragt der Türke, der in der Internationalen Apotheke das bestellte Deo aushändigt. "Oh, über alle Massen gut!" "Hat man dich bestochen?" "Das war diesmal nicht nötig." "Dann stimmt also, was du als Journalist sagst?" "Ja." "Unglaublich."

 

 

Die Nacht vor Weihnachten. Nikolai Rimski-Korsakow.

Oper.

Vladimir Jurowski, Barrie Kosky, Klaus Grünberg. Bayerische Staatsoper, München.

 

> An der Aufführung sind alle vortrefflich – bis auf zwei Ausnahmen: die Oper und die Inszenierung. Das Orchester ist untadelig. Der Chor eine Wucht. Die Sänger eine Wonne. Der Dirigent ein Star (Honorary Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire, ernannt von König Charles III.). Aber das Werk! Zum Einschlafen. Und die Inszenierung: Erzkonservativ. Es hat also schon seinen Grund, dass "Die Nacht vor Weihnachten" vergessen wurde. Sie ist nicht wiederzubeleben. <

 

Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Komponisten. Nikolai Rimski-Korsakow hat sich überschätzt, als er meinte, ihm sei das Talent gegeben, eine Erzählung von Nikolai Gogol namens "Die Nacht vor Weihnachten" zum Libretto für eine gleichnamige Oper auszugestalten. Vor seinem inneren Auge sah er das Gemälde, mit dem er das russische Dorfleben wiedergeben wollte. Ihn lockte die Möglichkeit zur Verarbeitung volkstümlicher Motive, und er wollte sie in Kontrast setzen zum Palast mit der Zarin. Das Werk sollte einen Hofchor und einen Bauernchor gegenüberstellen. Doch der Komponist kannte seine eigenen Schwächen nicht. Die von ihm unbeholfen konstruierten Bilder machen die Oper langweilig. Da liegt das Problem.

 

Rimski-Korsakows Vorstellung von guter Musik ist eng. Wie alle Konservatoriumsdirektoren sieht er sich angehalten, Vorbildliches zu liefern. Er zeigt in "Scheherazade", wie sich aus der Variation eines einzigen Themas eine halbe Stunde abwechslungsreicher Tonkunst gewinnen lässt, und dort steigert er das Malen mit Orchesterfarben zur Perfektion. Damit macht er den Westlern etwas vor und wird zum Vorbild für Debussy, Ravel, Dukas, Respighi.

 

Und jetzt schreibt er sein eigenes Libretto. Er denkt dabei im erster Linie an die Musik, nicht an die Handlung. Die bietet ihm bloss den Vorwand für den Gesang. Mit diesem Ansatz kommt Rimski-Rimski bei weitem nicht an Mozart-da Ponte, Strauss-Hofmannsthal oder Offenbach-Meilhac und Halévy heran. Seine ungelenke Dramaturgie aber stellt das Theater vor die Frage: "Was machen wir, wenn nichts läuft?"

 

Regisseur Barrie Kosky und Bühnenbildner Klaus Grünberg entscheiden sich zur Antwort: "Ablenken!" Ihre Szene besteht aus drei Stockwerken. Dazu schwebt aus dem Schnürboden noch die Zarin auf einem silbernen Doppeladler-Thron herab. Acht Ballettratten umwuseln einen Teufel und eine Hexe. Sechs Turner bieten Akrobatik, zwei von ihnen gar am Seil. Dazu füllen die hundert festangestellten Mitglieder des bayerischen Staatsopernchors aus 23 Ländern enggedrängt die Szene wie die Besucher des Weihnachtsmarkts am Marienplatz, begleitet von einigen niedlichen Kinderstatisten, von denen die einen voll im Spiel aufgehen, die andern hingegen vergessen, wo sie sind. Aber wie auch immer: Die Kleinen bieten die Glanzpunkte.

 

Linke und Woke müssten gegen das heteronormative Rollenbild des Komponisten protestieren. Sie müssten das Klischee an den Pranger stellen, dass sich die schönste Frau des Dorfs dem muskulösen, schönen Schmied anbietet unter der Bedingung, dass er ihr die Schuhe der Zarin zu Füssen legt. Sie müssten die autoritär-hierarchische Gesellschaftsstruktur denunzieren und dagegen aufstehen, dass das Säuferelend durch pittoreske Lustigkeit verniedlicht wird (was wenige Jahre später Tschechow und Gorki tun werden). Sie müssten verlangen, dass sich die Inszenierung dem Werk gegenüber kritisch verhalte, indem sie einen doppelten Boden einziehe. Aber von der Bayerischen Staatsoper, wo das Publikum in jeder Vorstellung eine Diamantenschau darbietet und BMW den "Global Partner" abgibt, erwartet das niemand. Und bei der "Nacht vor Weihnachten" unterbleibt's. Die Vorstellung beschränkt sich auf plattes, kundenfreundliches Ausstattungstheater.

 

Nun könnte man sagen: "Aber die Musik!" Und was die Ausführungsebene betrifft, wird in der Tat Vorzügliches geboten. Die Sänger sind eine Wonne (Spezialvermerk für Elena Tsallagova als Dorfschöne und Sergey Skorokhodov als Schmied). Der Chor eine Wucht. Das Bayerische Staatsorchester untadelig. GMD Vladimir Jurowski zeigt exaktes Mass in Agogik und Dynamik. Trotz zweihundert Mitwirkender auf der Bühne und im Graben ist – dem Niveau des Hauses entsprechend – kein einziger Wackler zu hören. Vortrefflich. Aber das Werk!

 

Anders als beim "Märchen vom Zaren Saltan" mit seinem "Hummelflug" ist es Nikolai Rimski-Korsakow in der "Nacht vor Weihnachten" nicht gelungen, einen Ohrwurm zu schreiben. So trifft auf dieses Werk denn speziell zu, was Percy A. Scholes unter dem Stichwort "Quality in Music" im "Oxford Companion to Music" ausgeführt hat:

 

Gute Musik hat Leben, schlechte Musik oft nicht. Es ist einfacher, diese Eigenschaft zu erkennen, als sie zu definieren. Eine Melodie, die ziellos umherwandert, ist nicht lebendig.

 

Wahrscheinlich weist nicht ein Zehntel der "populären" oder ernsten Musik, die heute oder zu irgendeiner Zeit produziert wird, diese Eigenschaft auf, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dazu führt, dass man ein Werk als "inspiriert" oder lediglich als "gemacht" empfindet.

 

Es gibt nichts zu rütteln: "Die Nacht vor Weihnachten" ist "gemacht", nicht "inspiriert". Man kann sie ohne Gewissensbisse ignorieren. 

 

 

*** Brahms und Tschaikowsky.

Erstes Klavierkonzert und vierte Symphonie.

Kirill Petrenko, Daniil Trifonov. Bayerisches Staatsorchester, München.

 

> Am 8. Dezember 2025 wiederholt das Bayerische Staatsorchester in München das Hauptstück seines Programms vom 13. März 1874: Das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms. Damals stand Hermann Levy am Pult, und der 41-jährige Komponist sass am Klavier. Nun wird das Werk interpretiert mit den Namen, die heute gross sind: Kirill Petrenko als Dirigent und Daniil Trifonov als Solist. <

 

Das Konzert findet im Nationaltheater statt. Hier laufen die Vorstellungen der Bayerischen Staatsoper. Die Akustik ist diesem Betrieb angepasst; folglich recht trocken; für Konzerte zu trocken. Der Klang wirkt zwar durchhörbar, überschreitet aber im dreifachen Forte die Schmerzgrenze. Das merkt man nach der Pause, wo Tschaikowskys vierte Symphonie gegeben wird. Vor der Pause jedoch, beim ersten Klavierkonzert von Brahms, ist der Pegel einwandfrei.

 

Kirill Petrenko, seit sechs Jahren Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, war zuvor sieben Jahre lang Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Mit deren Orchester hat er bislang zwanzig Akademiekonzerte bestritten – also Aufführungen, bei denen die Musiker aus dem Graben aufs Podium steigen und unter Beweis stellen, dass sie auch grosse Symphonik zu meistern verstehen. Die famose Wendigkeit der Opernorchester, sich dem Geschehen auf der Bühne blitzschnell anpassen zu können, erweist sich in der messerscharfen Akkuratesse der Schlusskadenzen, in der Kompaktheit der Register und im traumhaft sicheren Zusammenspiel mit dem Klaviersolisten Daniil Trifonov.

 

Imponierend sind die Bläser. Ihre Sicherheit zeigt: Uns kann man nichts vormachen. Wir sind es, die etwas vormachen! Mit zartem Hauch begleiten sie die perlenden Läufe des Klaviers; dann wieder setzen sie markante, eigenständige Akzente. Und erst die hohen Streicher! Im Diminuendo gleiten sie hinunter zu körperlich greifbarer, samtener Wärme, und im Forte übernehmen sie die Führung mit einer Mischung von Energie und strahlendem Gold. Ausdrucksreich interagiert das Orchester mit Daniil Trifonovs Solopart, der sich als belebter Organismus, nachdenkliche Klangrede und verschleiertes Bekenntnis gestaltet.

 

Zusammengehalten wird der Konzertabend durch Kirill Petrenko. Seine Meisterschaft macht schon nach wenigen Takten erlebbar, was unter dem Klang liegt: die Tiefenstruktur der Komposition. Sie fliesst wie ein unsichtbarer Grundgedanke durch die Instrumentalisten und entlockt ihnen tausend Farben. Dergestalt halten sich feingestufte Formdetails und Fasslichkeit der Gesamtaussage die Waage.

 

Um die Bedeutung des 2. Akademiekonzerts für ihn auszudrücken, muss der Kritiker auf den amerikanischen Dichter Edgar Allan Poe zurückgreifen. Ihm begegnete eines Tages der Schriftsteller William Roth Wallace in den Strassen von New York. Poe rief ihm zu:

 

"Wallace, ich habe soeben das grösste Gedicht geschrieben, das je geschrieben worden ist." [Es handelte sich um den "Raben".]

 

"So? Das ist ein schöner Erfolg."

 

"Möchten Sie es hören?"

 

"Aber sicher."

 

Daraufhin begann Poe, die bald Berühmtheit erlangenden Verse auf seine beste Art und Weise vorzulesen, die immer beeindruckend und fesselnd war. Als er den Vortrag beendet hatte, wandte er sich an Wallace, um seine Zustimmung einzuholen. Wallace sagte:

 

"Poe, das ist gut; ungewöhnlich gut."

 

"Gut? Ist das alles, was Sie über dieses Gedicht sagen können? Ich sage Ihnen, es ist das grösste Gedicht, das je geschrieben worden ist."

 

(Joel Benton.)

 

Etwas Entsprechendes erlebte nun der Kritiker aus Bümpliz und der Welt in Gesellschaft seiner Begleiterin am 2. Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters, 125 Jahre

 

 

nach der Aufführung des ersten Klavierkonzerts von Johannes Brahms in München mit Hermann Levi am Pult und dem Komponisten am Klavier.

 

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.

(Fernand Braudel.) 

 

 

Der Untertan. Heinrich Mann.

Romanadaptation von Alexander Eisenach.

Alexander Eisenach. Residenztheater München.

 

> "Der Untertan", adaptiert und inszeniert von Hausregisseur Alexander Eisenach, funktioniert nicht. <

 

Heinrich Manns Roman beschreibt die Denkmechanismen des Wilhelminismus. Die Aufführung ergänzt sie mit den Klischees der Gegenwart.

 

Alexander Eisenach: Ich fand es interessant, dass Diederich Hessling [der Untertan] so viele Züge von dem aufweist, was man heute unter toxischer Männlichkeit versteht, der [sic!] den antifeministischen, Anti-LGTBQIA-Diskurs bestimmt. Also einerseits das gekränkte dominierende Männlichkeitsgehabe und anderseits die damit eng verbundene Angst vor allem Weiblichen. Das Bemerkenswerte am "Untertan" ist, dass Heinrich Mann hier die psychische Verformung von Kindern und jungen Männern als Grundvoraussetzung dafür aufzeigt, dass Systeme wie der Autoritarismus oder Faschismus überhaupt funktionieren können.

 

Michael Billenkamp (Dramaturg): Du wolltest dieses eindeutige Patriarchat bewusst nicht bedienen, sondern lässt alle Figuren ausser Hessling von Frauen spielen. Warum diese Entscheidung?

 

Alexander Eisenach: Gerade weil Heinrich Mann hier das Porträt eines auf patriarchalen Strukturen basierenden Autoritarismus entwirft, indem jegliche Herrschaft von den Männern ausgeht, wollte ich mit der Besetzung bewusst auf das fehlende weibliche Element darin anspielen. Ausserdem will ich nicht überkommene Verhaltensmuster reproduzieren, die zeigen, dass Männer grundsätzlich das Sagen haben und die Frauen von ihnen dominiert werden. Wir haben dieses Machtgefüge umgedreht und all die darauf abzielenden Texte den Frauen gegeben, um sie auch anders hörbar zu machen. Weil es natürlich etwas ganz anderes ist, einen toxisch-maskulinen Inhalt von einer Frau zu hören, denn sie wird als Sprecherin zugleich zur Adressatin des Textes, zu derjenigen, die mit diesen Worten ausgestossen und abgestossen werden soll. Dadurch wird uns hoffentlich wieder bewusst, was sich in den letzten hundert Jahren gesellschaftlich verändert hat, und was bestimmte Kräfte gerade wieder versuchen, rückgängig zu machen.

 

Aber ach, "Der Untertan", adaptiert und inszeniert von Hausregisseur Alexander Eisenach, funktioniert nicht. Heinrich Manns Roman beschreibt die Denkmechanismen des Wilhelminismus. Die Aufführung ergänzt sie mit den Klischees der Gegenwart.

 

Hugues Gall (vormaliger Direktor der Opernhäuser von Genf und Paris):

 

Eine Produktion mag noch so schlecht sein, es finden sich immer ein paar Kritiker, die sie gut finden.

 

Süddeutsche Zeitung:

 

Schule, Muttergeplänkel, Diederich und die erste Liebe, Incel-Männer-Dialog, Burschenschaftsbesäufnis, vieles kommt, greift nahtlos ineinander. Das geschieht atemlos, kurzweilig, immer was geboten, immer ein Spass. "Der Untertan" ist ein wilder Bilderrausch ohne anschliessenden Grübelkater.

 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt (2016):

 

Es ist ein Zeichen für die Re-Ideologisierung unserer Zeit, dass immer mehr Stücke auftauchen, gegen die man nichts haben darf, weil sie "das richtige Bewusstsein" haben, und dieses "richtige Bewusstsein" entzieht sie der Kritik. Doch eine gute Gesinnung macht noch lange kein gutes Theater.