Landstrasse. Ein Baum. Abend. © Joel Schweizer.
Warten auf Beckett. Max Merker, Aaron Hitz.
Schauspiel.
Max Merker, Aaron Hitz. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2025.
> Nach der Uraufführung in Solothurn sagt der weitgereiste, erfahrene Theatermann, der in Berlin, München und Wien inszeniert hat: "Sowas können Sie in keinem deutschen Theater sehen!" Der Kritiker aus Bümpliz und der Welt bekräftigt: "Die Produktion gehörte ans Berliner Theatertreffen!" Und da liegt das Wunder des lebendigen Theaters: Dass am Rand der Autobahn zuweilen die wertvollsten Pflanzen zu finden sind. Man braucht bloss die stehende Kolonne zu verlassen und auszusteigen. Der weitgereiste Theatermann ergänzt: "Ich sag' immer: Provinz ist ein geographischer Begriff." So ist's. Was Max Merker und Aaron Hitz mit "Warten auf Beckett" auf die Bühne bringen, ist Welttheater. Wenn Beckett aus dem Jenseits zurückkäme, würde er sagen: "Sie haben mich verstanden. Man kann meine Version spielen oder Ihre, die beiden sind austauschbar." Weil das so ist, entsteht jetzt der grosse Klassiker des 20. Jahrhunderts in der Provinz, die nur ein geographischer Begriff ist, noch einmal neu, und zwar in einer Weise, für die es sich lohnt, die gebahnte Fahrspur zu verlassen und in Biel/Solothurn Halt zu machen. <
Unter der Überschrift "Besetzung" finden sich die Namen der Künstler auf dem Programmzettel: Aaron Hitz und Max Merker. Aber die Person, die sie spielen, bleibt unbezeichnet. In "Warten auf Godot" hiessen sie Wladimir und Estragon. Im Kino Stan Laurel und Oliver Hardy. Doch auf der Bühne von Theater Orchester Biel Solothurn tragen sie keine Bezeichnung. Damit sagt der Programmzettel: Aaron Hitz und Max Merker verkörpern den undefinierten namenlosen Menschen, dem, wie oft in der Geschichte, Unerhörtes widerfährt.
Obwohl das Paar die Situation nicht durchschaut, bewahrt es Haltung und bleibt auf Posten, weil es beauftragt wurde zu warten. Dieses Schicksal hat sich sein Schöpfer ausgedacht. Aaron Hitz und Max Merker geben ihm die Gestalt von Samuel Beckett. Dessen Botschaft wird von einem uralten Wandtelefon übermittelt, sobald man den Hörer abnimmt. Im letzten Jahrhundert hiess das Ding "Fernsprecher". Noch früher: "Das Wort Gottes". Nomen est omen. Goethe nennt es: "Stimme von oben."
Weil das Paar durch einen unerforschlichen Ratschluss für seine Rolle ausgewählt wurde, gehorchen Aaron Hitz und Max Merker, alias Wladimir und Estragon, alias Stan Laurel und Oliver Hardy, alias Samuel Beckett, alias der Mensch schlechthin, allen Widrigkeiten zum Trotz der Anweisung des Fernsprechers, selbst wenn das Gehäuse im Lauf der Geschichte krachend auseinanderbricht.
Einfach hierbleiben und Resignation üben. In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste.
(Theodor Fontane: Effi Briest.)
So wird "Warten auf Beckett" zum Welttheater: "Stellen Sie sich vor, man würde das Stück in der Ukraine spielen!", ruft der weitgereiste, erfahrene Theatermann. "Die Zuschauer würden in den durchlöcherten Wänden ihre Situation wiedererkennen. Das Stück ist hochpolitisch!" "Es ist dargestellte Philosophie", ergänzt der Kritiker aus Bümpliz und der Welt. Gerade, als er seine Wohnung für die Uraufführung verliess, begegnete ihm die Nachbarin, mit der es seit kurzem rasant bergabgeht. Mühsam stotterte sie: "Ich habe ALS!"
Die amyotrophe Lateralsklerose (kurz ALS) ist eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Durch die Lähmungen der Muskulatur kommt es unter anderem zu Gang-, Sprech- und Schluckstörungen. Die Überlebenszeit beträgt im Mittel etwa drei bis fünf Jahre. Der Tod tritt häufig infolge von Lungenentzündung ein, deren Entstehung durch den Verlust des Schluckvermögens und die Lähmung der Atemmuskulatur begünstigt wird.
(Wikipedia.)
Warte nur, balde
Ruhst du auch.
(Goethe: Wanderers Nachtlied.)
Und jetzt?
In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste. Vorher aber im kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie möglich und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen.
(Theodor Fontane.)
Während Aaron Hitz mit Max Merker auf Beckett wartet, stellt er sich ans Klavier und entlockt ihn frohgemute Töne, auch wenn es schief steht und die Treppe herunterzufallen droht. Unter diesem Licht ist "Warten auf Beckett" eine zugleich politische und philosophische Darstellung unsere Lage – mit einem Wort: Welttheater.
P.S. Der weitgereiste, erfahrene Theatermann ist Thomas Schulte-Michels. Vor ihm verneigt sich "Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt".
Die klassische Tortennummer.
Vor zerfallender Einrichtung.
Und das gefährdete Reich der Musik.
