Schauspiel und Oper in Wien und Salzburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. November 2025.

 

* Der fliegende Holländer. Richard Wagner.

Oper.

Carlo Benedetto Cimento, Carl Philip von Maldeghem, Stefanie Seitz. Salzburger Landestheater.

 

> Die Sänger sind gut. Der Chor beachtlich, dank der Schönheit junger Stimmen. Die Regie umtriebig. Die Bühne immens. Das darauf projizierte Video banal, ärgerlich, irritierend. In einem Wort: Salzburger Landestheater. <

 

Für den "fliegenden Holländer" zieht das Salzburger Landestheater in die Felsenreitschule. Sie ist wegen ihrer Ausdehnung schwer zu bespielen. Die Produktion widerspricht dieser Tatsache nicht.

 

Bühnenbildnerin Stefanie Seitz und Regisseur Carl Philip von Maldeghem messen das Gehäuse in seiner ganzen Höhe, Breite und Tiefe aus. Doch das Resultat ist nicht überzeugend. Wenigstens aber läuft stets etwas – und seien es nur die Arme und Beine des "Segel-Bewegungschors". Die Turner legen sich mit engagiertem Körpereinsatz ins Zeug, um eine rote und weisse Tuchbahn, die mal als Vorhang, mal als Segel dient, auf und zuzuziehen, bzw. in dramatisch gebauschte Bewegung zu versetzen.

 

Weil die Oper zur Zeit der Segelschiffe spielt, fassen die Sänger unablässig nach groben, braunen Tauen, und ein paarmal seilt sich gar der "Segel-Bewegungschor" spinnenhaft an senkrechter Wand ab. So geben die Schnüre die schicksalshafte Verstrickung des Holländer-Dramas wieder.

 

Problematisch ist das Video. Schon nach wenigen Takten fängt es an, die Ouvertüre mit Wellen zu bebildern, doch läuft deren Bewegung derart quer zum Rhythmus des Klangs, dass der Rat des grossen Hugues Gall (seinerzeit Direktor der Genfer und der Pariser Oper) zum Rettungsanker werden muss: "Wenn Sie die Inszenierung ärgert, schliessen Sie die Augen. Sie bekommen dann immer noch erstklassige Musik." Bei ihm: ja. In Salzburg immerhin: gut.

 

Die Beteiligten zeigen eine beeindruckende Ensembleleistung. Die Sänger sind imponierend. Der Chor dank der Schönheit junger Stimmen beachtlich. Das Orchester okay. An der Derniere darf Carlo Benedetto Cimento die Einstudierung von Leslie Suganandarajah nachdirigieren. Die Wiedergabe klingt – vielleicht der Akustik des Riesenraums geschuldet – eher pauschal.

 

Irritierend, ja ärgerlich erweist sich das mehrmalige Einblenden eines bewegten Augenpaars. Es soll wohl Sentas Sehnsuchtsblick wiedergeben. Doch in Wirklichkeit erinnert die Aufnahme an eine augenärztliche Untersuchung: "Bitte nach links schauen! Und jetzt nach rechts!" Bei dieser Gelegenheit erkennt der Laie zum ersten Mal, dass das Sehorgan eine gewellte, orangenhautähnliche Oberfläche aufweist. Aber so genau möchte er es gar nicht wissen. Nun ja: "Wenn Sie die Inszenierung stört, schliessen Sie die Augen."

 

 

* Der Fall McNeal. Ayad Akhtar. (DE)

Schauspiel.

Jan Bosse, Stéphane Laimé, Kathrin Plath, Andreas Deinert. Burgtheater Wien.

 

> Das Erstaunlichste an dieser Aufführung befindet sich auf der Besetzungsliste. Sie verrät, dass die Rollen des Schriftstellersohns und der Agentursekretärin vom selben Schauspieler verkörpert werden. Einmal trägt Felix Kammerer dunkles gekraustes, dann blondes langes Haar. Mal ist er Mann, mal Frau. Die Kostüme von Kathrin Plath verwandeln ihn derart überzeugend, dass aus seiner Leistung zutagetritt: Nichts von dem, was du siehst, ist echt! So bringt die Aufführung durch doppeldeutiges Spiel den "Fall McNeal" auf den Punkt. <

 

Die Problematik des Zustandekommens von dem, was man herkömmlicherweise Kunst nannte, hat derzeit Konjunktur. Um 05:35 h veröffentlichte Jürg Tschirren, Digitalredaktor von SRF News:

 

OpenAIs neueste Version ihrer Video-KI produziert Inhalte, die kaum noch von echten Inhalten zu unterscheiden sind.

 

... Die Sperrung des Namens des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski liess sich dadurch umgehen, dass statt nach Selenski nach "Ukraines Kriegschef" gefragt wurde. Darauf erzeugte die KI einen Clip mit einer Figur in Uniform, die Selenski sehr ähnelte. Auch inszenierte Überwachungsvideos oder gefälschte Polizeiaufnahmen lassen sich erzeugen, wenn Umwege in der Formulierung genutzt werden. Ein weiteres Konfliktfeld ist das Urheberrecht. Recherchen von US-Medien zeigen, dass Sora 2 Bilder, Stile und Marken bekannter Produktionen erstaunlich präzise nachahmen kann: Szenen aus Netflix-Serien oder Games wie Minecraft.

 

Am Burgtheater wird die Problematik des Zustandekommens von dem, was man herkömmlicherweise Kunst nannte, neben dem "Fall McNeal" auch in der "Wurzel aus Sein" von Wajdi Mouawad thematisiert, und in der Josefstadt durch "Das Vermächtnis" von Matthew Lopez. In Paris läuft das Thema am Théâtre National de la Colline in "Racine carrée du verbe être", an der Comédie-Française in "Rien ne s'oppose à la nuit" und am Théâtre des Bouffes du Nord in "Les couleurs de l'air". In der Schweiz und Amerika in "Das kurze Leben der Fakten" von Jeremy Kareken und "Das Original" von Stephen Sachs.

 

Bei all diesen Stücken geht es um die Frage von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Erfindung, Eigenleistung und Übernahme, Original und Plagiat, und das wohlverstanden auf der metanarrativen Ebene. (Ich gebrauche diese Ausdrucksweise, um zu zeigen, dass ich weiss, wie sich ein Mitglied der Scientific Community darzustellen hat, wenn es den Anspruch erhebt, ernstgenommen zu werden.) Einfacher gesagt: Die Stücke behandeln das Verhältnis von Urheber und Werk, indem sie während der Aufführung ein Manuskript entstehen lassen.

 

Die Thematik ist zwar abstrakt, aber, dank KI, aktuell. Und die Schöpfer bekannter künstlerischer Werke haben, im Theater wie im Leben, einen Nimbus, der ihnen breites Interesse sichert, vor allem wenn es sich, wie im "Fall McNeal", um einen Literaturnobelpreisträger handelt. Zeigt das Theater dazu noch dessen Dankesrede an der Stockholmer Akademie und das grosse Interview für das Magazin der "New York Times", dann entrollt sich für den kleinen, namenlosen Zuschauer die Sphäre von Geist und Geschäft, Medien und Öffentlichkeit in voller Erhabenheit; und der graue Mr. Nobody sieht sich aufregend einbezogen, wenn ihn das Video von Andreas Deinert zwischen den Burgtheaterportalen auf eine Riesenleinwand projiziert, so dass er bereits mitspielt, indem er dasitzt. Auf diese Weise triumphiert die metanarrative Ebene, und deren Urheber heisst Jan Bosse.

 

Daneben bedient "Der Fall McNeal" auch die voyeuristische Ebene. Geboten wird eine Ultraschall-Untersuchung von McNeals Leber und ein Herz-Kreislauf-Zusammenbruch. Später kommen Ehe und Familie des Schriftstellers zur Sprache, seine Zusammenarbeit mit der Buchagentin und seine Schwierigkeiten mit Frau und Sohn. Es fallen die Namen von Schwergewichten wie Friedrich Nietzsche, Annie Erneaux, Henrik Ibsen, Gustave Flaubert, William Shakespeare, Ronald Reagan und Harvey Weinstein. Dass "Madame Bovary" laufend falsch ausgesprochen wird, signalisiert Halbwissen und Angeberei, wobei sich nicht entscheiden lässt, wer für den Effekt verantwortlich ist: der grosse Schauspieler Joachim Meyerhoff oder der von ihm verkörperte Romanautor McNeil. Damit ist die Aufführung bis ins Detail von Doppelbödigkeit geprägt: Nichts von dem, was du siehst, ist echt!

 

Seit seiner Erhebung zum Nationaltheater im Jahr 1776 durch Kaiser Josef II. ruht das Burgtheater zu einem wesentlichen Teil auf dem Pfeiler des Boulevardstücks. Nun bringt es mit der seinem Rang geschuldeten Grandezza im "Fall McNeal" ein aktuelles Exemplar auf die Bühne, und der unbekannte Zuschauer kann erleben, dass es denen da oben nicht besser geht als ihm selber und dass er alles, was ihn beschäftigt, auf der Bühne wiederfindet. Die narzisstische Ebene. Sie zieht immer.

 

 

** Das Ende ist nah. Amir Gudarzi. (UA)

Romanadaptation.

Sara Ostertag, Nanna Neudeck. Schauspielhaus Wien.

 

> 2023 erschien bei DTV "Das Ende ist nah" von Amir Gudarzi. Der erste Roman des 36-jährigen iranischen Schriftstellers wurde jetzt von Regisseurin Sara Ostertag und Dramaturg Tobias Herzberg für die Bühne bearbeitet und am Schauspielhaus Wien zur Uraufführung gebracht. Der Titel lässt sich in verschiedene Richtungen auslegen. Was ist nah? Das Ende des Aufnahmeverfahrens für den Flüchtling, der im Zentrum der Erzählung steht? Das Ende der aussichtslosen Liebesbeziehung, die eine deutsche Doktorandin zu ihm aufnimmt? Das Ende des Mullah-Regimes in Persien? Das Ende des Exils? Wie auch immer: "Damit etwas kommt, muss etwas gehen." (Heiner Müller.) <

 

Zur Live-Musik von Paul Plut realisiert das fünfköpfige Ensemble, bestehend aus Shabnam Chamani, Florentine Krafft, Kaspar Locher, Johnny Mhanna und Maximilian Thienen, durch umarmen, robben, tanzen, zerren, hüpfen, springen, reissen, kämpfen, strecken, liegen, streicheln, stossen, küssen unaufhörliches Bewegungstheater, wie das heute landauf, landab bei der Aufführung ursprünglich epischer Vorlagen angesagt ist.

  

Diesmal aber macht die Form Sinn, ist doch die Hauptfigur mit dem Namen A. (wie Amir Gudarzi) immer in Bewegung. Seine Geschichte setzt ein mit einer Fahrt in der Teheraner U-Bahn, doch kommt er nach wenigen Stationen von der Route ab. Zwei Bärtige veranlassen ihn zum Aussteigen, bevor er die Demonstration gegen das Regime erreicht hat. Von da an ist er unterwegs. Er flieht aus dem Iran; er flieht in die Türkei; er flieht nach Österreich. Hier wird er weiter herumgeschoben, auf Strassen, Plätze und Parks, in Wohnungen und Durchgangsheime, bis es am Ende heisst: "Sie sind aufgenommen." Mit diesem Bescheid endet das Stück. Doch jenseits des Theaters setzt sich die Lebensreise von A. weiter fort. Denn aufgenommen heisst nicht angekommen.

 

In diesem Kontext macht die Bühneneinrichtung von Nanna Neudeck Sinn. Sie füllt die Szene knietief mit leichten grauen Kügelchen aus einem unbekannten synthetischen Material, das weder knirscht noch stäubt, aber durch seine Unbeständigkeit die Dynamik des Spiels aufnimmt: Die Figuren haben nie festen Boden unter den Füssen. In einzelnen Abschnitten durchwandern sie Sandwüsten, dann wieder werden sie untergepflügt. Sie waten durch den Morast der Verhältnisse und ertrinken im Meer der Hoffnungslosigkeit. "Das Ende ist nah." Welch mehrdeutige Verheissung!

 

Das homogene Ensemble stellt trotz aller Diversität seinen Mann. Florentine Krafft aber ragt heraus. Es ist ihr vergönnt, einen Bogen zu schmieden. Er zeichnet nach, wie eine deutsche Doktorandin in Wien untergeht. Die junge Frau bleibt stecken in der Entwicklung, in der Arbeit, in der Sterilität der Beziehung. Ihr Sterben nimmt den Betrachter mit, und er begreift: Das Unglück findet dich überall, egal, wer du bist und woher du kommst.

 

 

Egal. Marius von Mayenburg.

Schauspiel.

Thomas Jonigk, Lisa Dässler. Burgtheater Wien.

 

> Marius von Mayenburg schreibt Stücke für heute mit Themen von heute mit Menschen von heute in einer Sprache von heute. Auf straff gespanntem, hohem Seil bewegt sich die Handlung der schlimmstmöglichen Wendung entgegen. Dabei ist faszinierend, wie es dem Dramatiker gelingt, aus einer alltäglichen Situation, in der sich das Publikum wiederfindet, nach wenigen Minuten hinauszuführen in das Überraschende, Spannende, Aufdeckende. "Egal" aus dem Jahr 2023 nimmt indessen diesen Verlauf nicht. Es bildet lediglich das ewige Einerlei ab. Damit ist die Bühne gleich enttäuschend wie das Leben. <

 

Vituos führt Marius von Mayenburg in seinen Stücken von einem Umschlagspunkt zum nächsten. Derselben Struktur unterliegt auch das Gezänk alter Paare. Nur führen dort die Wendungen nirgends hin. Im Kippklapp der eingespielten Argumente erfahren die Partner nur die Ausweglosigkeit ihrer Lage. "Rühr hin den Kot, rühr her den Kot, bleibt's doch immer Kot", erklärte, Martin Buber zufolge, der Rabbi von Gera vor zweihundert Jahren. Bei Marius von Mayenburg führt das Schauspiel zum Fazit: "Scheissegal. – Egal."

 

Das Stück aus dem Jahr 2023 gibt die Konstellation eines heutigen Paares wieder. Der eine Teil macht als Arbeitssklave Karriere und erwirbt die Hauptsache des Einkommens. Der andere Teil versieht Haushalt und Kinder und steuert durch Heimarbeit das Zubrot bei. Doch mit der Zeit erwacht die Frage: "Wer von uns beiden leistet mehr?" Ab jetzt ist die Äquivalenzbalance gestört, und das Paar hat ein Problem.

 

Die Handlung von "Egal" setzt beim Nachhausekommen ein. In diesem Moment stossen die Vertreter der beiden Welten, der geschäftlichen und der häuslichen, aufeinander. Dabei verläuft ihr Dialog auf den Bahnen, die Eric Berne in den "Spielen der Erwachsenen" beschrieben hat. Sie wecken bei den Individuen das Gefühl, allein zu sein und nicht verstanden zu werden.

 

Als "Tema con variazioni" für zwei Instrumente handelt Marius von Mayenburg die Stagnation des Paars ab, wobei die Notenblätter alle Viertelstunden ausgetauscht werden. So tragen die beiden Darsteller abwechselnd die Melodie des andern vor. Dabei fallen sie sich oft, vor allem am Anfang, ins Wort. Der Umstand zeigt, dass sie einander nicht zuhören. Ob das auf die Inszenierung zurückgeht oder auf die schauspielerische Verfassung am besuchten Abend, ist nicht zu entscheiden. Immerhin verwirklicht Caroline Peters ihren Part einwandfrei, wogegen Michael Wächter meistens zu leise und zu schnell spricht. Offenbar ist die Abendregie betriebstaub geworden.

 

Bei der Virtuositätsübung des "Tema con variazioni" erfährt das Publikum die abgewandelte Wiederkehr des Gleichen. Sie schafft, wie Walther Killy gezeigt hat, im Kunstwerk Struktur und bringt das Verrinnen der Zeit zur Anschauung. Berühmtes Beispiel: "Effi komm!" Am Anfang des Romans von Theodor Fontane wird der Satz einem jungen, wilden Mädchen zugerufen, am Ende vernimmt ihn eine unglückliche Frau.

 

Die abgewandelte Wiederkehr des Gleichen zeigen auch Regisseur Thomas Jonigk und Bühnenbildnerin Lisa Dässler in Stil und Dekor von "Egal". Vor einem Jahr haben sie bei "Ellen Babic" schon die gleichen Elemente eingesetzt. Dort bildete das Drama eine Verlauf. Jetzt eine Stagnation. "Le vent se lève. Il faut tenter de vivre!" liegt sechzig Jahre zurück. Der Elan ist weg.

 

Also führt "Egal" ein ausgelaugtes Ehepaar vor. Viele im Saal erkennen sich wieder und lachen bei jedem Treffer. Ein paar wenige aber verlassen die Vorstellung enttäuscht wie jener von Goethe zitierte Bibliomane, der den Abend in Gesellschaft langweiliger Menschen verbracht hat und beim Nachhausegehen sagt: "Wären's Bücher gewesen, ich hätte sie nicht gelesen."

 

 

** Caché. Michael Haneke. (UA)

Filmadapation von Felicitas Bruckner und Tobias Schuster.

Felicitas Bruckner, Viva Schudt, Florian Seufert. Volkstheater Wien.

 

> Im Wiener Schauspiel wird derzeit die Buchbranche geboostert. Wie schon in "Egal" und im "Fall McNeal" am Burgtheater arbeitet am Volkstheater die weibliche Hauptrolle ebenfalls im Verlagswesen. Und wenn die Wohnzimmer heute wandgrosse Bildschirme aufweisen, so zeigen die Theaterhäuser, dass sie Video noch mit ganz anderer Kelle anrichten können: In "Caché" gleich mit zwei, drei, vier Leinwänden von beeindruckender Grösse und Brillanz. Dazu immenses Dekor. Dazu Hochfahren einer Wohnküche. Dazu Drehbühne. Wäre der Handlungskern nicht so ernst, müsste man sagen: "Tant de bruit pour une omelette!" (So viel Lärm für ein Omelett!) <

 

Chantal Desol ist Professorin der Philosophie und Mitglied der französischen Académie des sciences morales et politiques. Sie vertritt die Auffassung, dass die Gegenwart von den Toten mitgestaltet wird: "Die Situation, die wir heute haben, verdanken wir der Generation Pompidou. Sie hat die Immigration aus Afrika begünstigt, um tiefe Arbeitslöhne zu gewinnen. Dadurch wurde das heutige Frankreich geformt."

 

Diese historische Gegebenheit prägt nun auch den Film "Caché" von Michael Haneke aus dem Jahr 2005. Fürs Wiener Volkstheater haben ihn Regisseurin Felicitas Bruckner und Dramaturg Tobias Schuster adaptiert. Am Fall eines Fernsehmoderators arbeitet die Handlung eine fünfzigjährige schuldhafte Verstrickung heraus: "Der HERR lässt niemand ungestraft, sondern sucht heim die Missetat der Väter über die Kinder ins dritte und vierte Glied." (4. Mose 14.18)

 

Der Ruhm eines Medienmanns auf dem Gipfel der Karriere erreicht die Hütte eines malträtierten, deklassierten algerischen Einwanderers der drittern Generation, und dieser sucht den prominenten Franzosen heim: "Ich wollte wissen, wie man sich fühlt, wenn man einen Menschen auf dem Gewissen hat."

 

Mit den vier grossartigen Darstellern Bernardo Arrias Porras, Moritz Grossmann, Sebastian Rudolph und Johanna Wokalek zeigt die Inszenierung, wie eine mittelständische Familie mit Vater, Mutter und Sohn unter der Einwirkung des Verdrängten zerfällt. Virtuoser Umgang mit Video (Florian Seufert) und Bühne (Viva Schudt) schafft ein Kaleidoskop, in dem Psychisches und Politisches, Aktuelles und Geschichtliches, Inneres und Äusseres anfangs rätselhaft, dann unheimlich und schliesslich grauenvoll am Zuschauerauge vorüberziehen. Content Note des Volkstheaters: "In der Produktion kommt es zur Darstellung suizidaler Handlungen."

 

Gerade die Meisterschaft, mit der die Bühne ihre Trümpfe ausspielt, weckt aber mit der Zeit ein Unbehagen: Passiert da nicht zu viel des Guten? Ist Virtuosität die angemessene Form für die Darstellung von Schuld und Verstrickung? Sollte das künstlerische Talent nicht den Weg des "Less is more" beschreiten? Die Frage stellen heisst sie beantworten.

 

 

*** Bumm Tschak oder Der letzte Henker. Ein Richtspiel. Ferdinand Schmalz. (UA)

Schauspiel.

Stefan Bachmann, Olaf Altmann, Adriana Braga Peretzki, Sabina Perry, Sven Kaiser. Burgtheater Wien.

 

> Der Theaterschriftsteller Ferdinand Schmalz hat für Inhalt und Sprache einen eigenen Stil entwickelt. Seine Texte bewegen sich zwischen Parodie und Poesie. Den Gegenstandsbereich bildet ein gescheit zusammengestelltes Kondensat. Es umfasst die vitalen Elemente der Wirklichkeit und bringt sie in einem Gemisch von Vulgarität und Banalität zur Darstellung. Am Burgtheater rauscht die unappetitliche Gemengelage der Gegenwart mit opernhafter Sinnlichkeit auf. Und Stefan Bachmanns Inszenierung macht daraus eine Wonne. <

 

Adriana Braga Peretzkis Kostüme sind der Künstlichkeit der Wesen angemessen. In "Bumm Tachak" spielen alle eine Rolle: Der Clubbesitzer, der Clubgast, der Türsteher ... und auf der anderen Seite die Kanzlerin, die sich an die Spitze des Staates geputscht hat, und ihre Schergen. Sogar das Opfer, an dem die wiedereingeführte Todesstrafe zum ersten Mal vollzogen werden soll, ist kein blosser Mensch, sondern ein Jahrmarktszauberer mit spitzem, gelbem Hut. – Ambivalent auch die Guillotine: kein Original, sondern eine Replika. Bisher wurden durch sie am Höhepunkt der Clubabende Melonen gespalten. Jetzt sollen es Köpfe sein. So kippt der Spass in Ernst, die Komödie in Wirklichkeit.

 

Auf derselben Kippe befindet sich auch die Epoche der Zuschauer. Noch erscheinen die Parolen der Rechtsextremen als Sprüche: Aufräumen, saubermachen, durchgreifen! Aber auf der anderen Seite des Teichs ist schon zu erleben, was das heisst.

 

"Süddeutsche Zeitung", 17. November:

 

Die Angst vor den Maskierten.

 

Die Beamten fahren in unauffälligen Autos vor und verbergen ihre Gesichter, sie nennen keine Namen und zeigen keine Ausweise, aber gerne ihre Waffen.

 

Der rechte Sender News Nation zeigte, wie sich gefesselte Männer aufstellen mussten, ICE, FBI und Border Patrol holten auch Frauen und Kinder aus ihren Betten. Die Strassen blockierten sie unter anderem mit Panzerfahrzeugen. Das Department of Homeland Security schnitt später martialische Szenen zusammen und stellte das Video auf X. "An alle kriminellen illegalen Einwanderer: Die Dunkelheit ist nicht mehr euer Verbündeter", war darunter zu lesen. "Wir werden euch finden."

 

Im "Richtspiel" am Burgtheater agieren die Figuren auf der metallisch kalten, leeren Bühne von Olaf Altmann mit faszinierend rhythmischer Expressivität. Unterstützt von Sven Kaisers Komposition werden Sprache und Bewegung vom selben musikalischen Duktus durchzogen, und dank dem Beitrag von Sabina Perry zu Körperarbeit und Choreografie verschmelzen Stück und Aufführung in Stefan Bachmanns Inszenierung miteinander.

 

Besonders wertvoll wird das "Richtspiel" durch seinen Verlauf. Ferdinand Schmalz biegt die Handlungskurve, die lange Zeit nur abwärtsführte, am Schluss nach oben. Wer spricht von Unvermeidlichkeit? Es braucht keinen reitenden Boten des Königs! Es braucht kein Wunder! Es genügt, die Verhexung abzuschütteln:

 

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

(Immanuel Kant.)

 

Vor diesem Hintergrund ist das Ende des "letzten Henkers" eine Verheissung: Weg mit der Unmenschlichkeit!

 

Wir wissen, dass die Triebe rücksichtslos sind und keine Moral kennen. Wenn jeder versuchen würde, all seine Triebwünsche zu befriedigen, würde das zu Anarchie führen. Die Befriedigung von Triebwünschen ist oft mit Leiden für andere verbunden, und die freie Entfaltung der Triebe bedeutet Vergnügen für die Mächtigen und Elend für die Schwachen. Viele politische Situationen im Laufe der Geschichte haben das gezeigt.

 

Die Strebungen des Gewissens dagegen bringen, wenn sie normal sind, anderen Menschen in der Regel Glück. Sie tragen dazu bei, dass die Menschen grosszügig und rücksichtsvoll sind. Unsere Zivilisation basiert weitgehend auf dem Triumph des Gewissens über die Triebe, und damit die Zivilisation fortbestehen kann, muss dieser Triumph weitergehen.

(Eric Berne.)

 

In seinem Nachtstück hat Ferdinand Schmalz die Aufgabe erfüllt, die Jean Paul dem Dichter vorschrieb:

 

Hinter ihnen über den Bergen, wo sie sich gefunden hatten, wölbte sich ein Regenbogen hoch in den Himmel. Und so kamen sie an, eine Seele in die andere gesunken, den Nachtschimmer in den Tages-Glanz ziehend, und ihre Blicke waren traumtrunken.

 

Schicksal, warum lässest du so wenige deiner Menschen eine solche Nacht, ach nur eine Stunde daraus erleben? Sie würden sie nie vergessen, sie würden mit ihr als mit dem Frühlings-Weiss und Rot die Wüsten des Lebens färben – sie würden zwar weinen und schmachten, aber nicht nach Zukunft, sondern nach Vergangenheit – und sie würden, wenn sie stürben, auch sagen: auch ich war in Arkadien! –

 

Warum muss bloss die Dichtkunst das zeigen, was du versagst, und die armen blütenlosen Menschen erinnern sich nur seliger Träume, nicht seliger Vergangenheiten? Ach Schicksal, dichte doch selber öfter!

 

Ferdinand Schmalz hat das Seine geleistet.

 

 

* Alice in Wonderland. Unsuk Chin. (ÖEA)

Oper.

Stephan Zilias, Elisabeth Stöppler, Valentin Köhler. Theater an der Wien, Wien.

 

> Die 64-jährige, heute in Berlin lebende südkoreanische Komponistin Unsuk Chin hat "Alice im Wunderland" zu einer dreistündigen Oper umgestaltet. Mit David Henry Whang schrieb sie das Libretto, und mit Lloyd Moore erstellte sie eine reduzierte Orchesterfassung. In dieser Form kommt nun Lewis Carolls Roman zur österreichischen Erstaufführung. Das Ergebnis ist hörens-, aber nicht sehenswert. <

 

Alice wurde es langsam sehr langweilig, neben ihrer Schwester am Ufer zu sitzen und nichts zu tun zu haben: Ein- oder zweimal hatte sie einen Blick in das Buch geworfen, das ihre Schwester las, aber es enthielt weder Bilder noch Dialoge, "und was nützt ein Buch", dachte Alice, "ohne Bilder und Dialoge?"

 

Mit diesen Sätzen beginnt Lewis Carrolls "Alice im Wunderland". Der Erzähler schildert die Ereignisse. Er teilt mit, was Alice denkt und fühlt:

 

Der Kaninchenbau verlief eine Zeitlang gerade wie ein Tunnel, dann fiel er plötzlich so steil ab, dass Alice keine Zeit hatte, daran zu denken, sich festzuhalten, bevor sie sich in einen sehr tiefen Schacht fallen fühlte.

 

Die Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler fehlt bei Unsuk Chins Oper. Die Bühne beschränkt sich darauf zu zeigen, was passiert. Sie verrät keine unausgesprochenen Gedanken. Das Ironisieren, Kommentieren, Erklären, Einordnen unterbleibt. Und solange jemand im Scheinwerferlicht steht, lässt sich der Lauf der Zeit weder verlangsamen noch beschleunigen. So bringt die Veroperung von "Alice im Wunderland" einen Dimensionsverlust gegenüber dem Buch.

 

Verschärfend kommt hinzu, dass die Sängerkörper im physikalischen Raum mit ihrer Schwere und Unbeholfenheit das Spiel auf gutgemeinte, aber wirkungsschwache Bühnenaktivität reduzieren. Sie verjagt jeden Hauch von Traum, Poesie und Wunder. An der Rampe erscheint bloss die Beflissenheit der Mitwirkenden, nicht aber die andere Welt "hinter dem Spiegel".

 

An den Randplätzen der Parkettreihen 4 und 5 hören die Kritiker nach kurzer Zeit auf zu schreiben. Die Vorstellung bietet zu wenig Bemerkenswertes. Die Drehbühne dreht und dreht. Episode folgt auf Episode. Kostümierte Menschen hantieren mit Requisiten herum. Die Kritiker schliessen die Augen. Jetzt schlafen sie ein. Was werden sie wohl über die Inszenierung von Elisabeth Stöppler und das Bühnenbild von Valentin Köhler publizieren? Vermutlich etwas Nettes. Dann gibt's keinen Ärger.

 

Das Aufregende bei "Alice in Wonderland" passiert in der Komposition. Die Partitur ist klangschön, dicht und evokativ. Sie führt den Krönungsakt von Mussorgskis "Boris Godunow" und die Verwandlungsmusik von Wagners "Parsifal" in die gemässigte Atonalität des 20. Jahrhunderts weiter und steigert sie durch eine Orchestrierung von ravelschem Raffinement. Unter der Leitung von Stephan Zilias realisiert das ORF Radio-Symphonieorchester die Klangpalette mit Akkuratesse, und das Schlagwerk bietet das Nonplusultra.

 

Die Sänger sind allesamt beachtlich. Gefeiert wird, zu recht, Alfeidur Erla Gudmundsdottir als Alice. Und die Gumpoldskirchner Spatzen (Leitung Katja Kalmar) sind, wie Lewis Caroll sagen würde, zum Küssen. (Edith Oliver: "He wanted to make a fresh 'child friend' and invited the child to tea.") Wer die Augen schliesst, ohne einzuschlafen, erlebt im Theater an der Wien ein beglückendes Klangwunder.

 

 

* The Boys Are Kissing. Zak Zarafshan. (DEA)

Komödie.

Martina Gredler, Sophie Lux, Moana Stemberger. Volkstheater Wien.

 

> Die hintere Hälfte des Saals mit den Plätzen der Kategorie II bleibt lange leer. Doch fünf Minuten vor der Vorstellung erobert sie ein Heer von jungen Menschen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren. Zusammen mit ihren Altersgenossen auf den Sitzen der Kategorie I bilden sie die starke Mehrheit des Publikums. Das Stück ist freilich auch für sie gemacht, und siehe, die jungen Erwachsenen folgen der Aufführung mit wachen, schnellen Reaktionen. Am Ende honorieren sie "The Boys Are Kissing" mit lang anhaltendem Jubel. <

 

In ihrer Jugend versah Charlotte Brontë (1816–1835), Autorin des grossen englischen Frauenromans "Jane Eyre", den Dienst eines Kindermädchens. Eine Bekannte erinnert sich:

 

Eines Tages, beim Abendessen der Kinder, sagte der Junge, ein acht- oder neunjähriger Knabe, in einem kleinen demonstrativen Gefühlsausbruch, während er seine Hand in die ihre legte: "Ich liebe Sie, Miss Brontë." Daraufhin rief die Mutter vor allen Kindern aus: "Die Gouvernante lieben, pfui!"

 

Zweihundert Jahre später zeigt der gute englische Mittelstand im Londoner Speckgürtel die gleiche Reaktion, als er vernimmt, dass ein Neunjähriger auf dem Schulhof einen Kameraden geküsst hat. Was für ein Beispiel gibt diese junge Schwuchtel! Sind die Kinder etwa schon von der Regenbogenliterarur in der Schulbibliothek verdorben worden? Wir wünschen nicht, dass unser Nachwuchs mit Perversen verkehrt! Beim Geküssten soll es sich ja um den "Sohn" zweier Lesben handeln. Dagegen darf man heute zwar nichts mehr sagen, doch wir möchten, dass unsere Kinder normal aufwachsen. Ist das zu viel verlangt?

 

Die 2023 uraufgeführte Komödie "The Boys Are Kissing" des in London lebenden britisch-iranischen Schriftstellers Zak Zarafshan nimmt den Vorfall auf dem Schulhof zum Anlass, um die aktuelle gesellschaftliche Lage mit jener überparteilichen Objektivität zu malen, die den wahren Künstler auszeichnet. Der Kuss des Neunjährigen führt zwei Elternpaare zusammen: ein herkömmliches heterosexuelles und ein avantgardistisch lesbisches. Beaufsichtigt wird die Auseinandersetzung von einem Paar schwuler Schutzengel mit den Namen Analis und Klitoris. Sie wurden vom lieben Gott auf die Erde gesandt, um den Bedrängten der LGBTQIA-Community beizustehen, weil der himmlische Vater die Liebe selbst ist und seit Schöpfungsbeginn auf Seiten der Verfemten steht.

 

Die Infantilität der heutigen Debatte gibt das Bühnenbild von Sophie Lux eindrücklich wieder. In den Plastikkostümen von Moana Stemberger bewegen sich die Schauspieler in einer riesigen Hüpfburg. Die jungen Zuschauer im Wiener Volkstheater sind ihr kaum entwachsen, und die Elternpaare auf der Bühne leben noch darin (nicht nur inszenatorisch, sondern auch entwicklungspsychologisch). Damit fallen bei "The Boys Are Kissing" Tonart und Ausstattung zusammen. Ein Treffer.

 

Aber die Wortdeutlichkeit! Ein generationenaltes Volkstheatergebrechen. Einwandfrei ist nur Simon Bauer, der Darsteller des glatzköpfigen Vaters. Die andern sind verwaschen, sobald sie in Erregung geraten oder die Sprechgeschwindigkeit steigern. Martina Gredler, die Regisseurin, hat ihren Job bis zur Premiere gemacht. Jetzt liegt die Verantwortung beim neuen Herrn des Hauses. – Verehrter Jan Philipp Gloger: Nachfeilen, bitte!